Rot leuchtet der Vorhang in den Bochumer Kammerspielen. Das Theater wird zum Opernhaus, gespielt wird leichte Kost: „Die Fledermaus“ von Johann Strauß. Die vierte Wand öffnet sich, eine riesige weiße Schleife erscheint auf der Bühne. Der Vorhang schließt sich wieder. War‘s das? Nee, die elf Schauspielstudierenden der Essener Folkwang UdK kommen noch. Plötzlich ist Bewegung auf der Bühne, drei Schwarzgekleidete umkreisen die weiße Schleife, Rosalinde von Eisenstein (Anna Tabea Stockbrügger) will singend – „O Gott, wie rührt mich dies!“ – ihren egomanischen Mann Gabriel (William Hauf) ins Gefängnis verabschieden. Der hadert noch mit seinem Anwalt Dr. Blind (Justus Rosenkranz), folgt aber dem Rat seines Kumpels Dr. Falke (Linet Arndt), erst noch richtig Party zu machen. Heimliche Sause bei Prinz Orlowsky (Sarah Flechtker) ohne Gattin. Doch der Falke führt Übles im Schild. Rosalinde singt mit Adele (Salome Zehnder, ja, die kann auch singen) noch ein Duett. „O Gott, wie rührt mich dies!“ Die Dauerschleife des ersten Aktes. Mich rührt es auch.
Gleich kommt sichernoch „Party on, Wayne!“ – „Party on, Garth!“ („Wayne‘s World“, 1992), einigeim Publikum könnten sich fragen, ob das noch der olle Johann Strauß ist. Nein, nicht ganz! Es ist die neue Dialogfassung von David Gieselmann, inszeniert hat das komödiantische Feuerwerk Katharina Birch. Klar, nicht alle Schmonzetten der Oper werden gesungen, aber dafür wird trompetet – und die Les Paul rockt bei Camillo Guthmann als wirbelnder Alfred. Aber erst später, erst mal wird vor dem Ball Rosalinde bezirzt. Doch Adele stört, die Bedienstete will mit ihrer Schwester Ida (Lena-Sophie Baer, auch als Simultan-Übersetzerin) auf den Orlowskyschen Ball, außerdem ans Theater. Aber das Ziel haben an diesem Abend alle Protagonisten – und so zieht es sie an die Rampe der Kammerspiele. Slogan: „Das sind wir.“Und mir wichtig: „… als Studierende der ehemaligen Bochumer Schauspielschule.“ Und sie erklären dem Publikum das Wie und Warum. Blöd für Alfred, der geht wegen des ahnungslosen Gefängnisdirektors Frank (Anton Engelmann) als Gabriel von Eisenstein in den Knast, um Rosalinde nicht zu kompromittieren. Der Vorhang fällt. Das war visuelle Pyrotechnik, was die Elf da abgebrannt haben.
Dieses Tempo ist natürlich nicht zu halten. Nur die Choreografie bleibt ständig in Bewegung. Dr. Falke erklärt nun, was die Fledermaus zu bedeuten hat, und dass er mit diesem Kostüm stockbesoffen einst von Gabriel von Eisenstein erniedrigt wurde. Die ganze Operette ist eine Rache dafür. Als die ganze dekadente Mischpoke auch mit Hilfe von Falkes Entourage (Paula Julia Pitsch) wieder den ultimativen Alkoholpegel erreicht hat, erklärt „die einstige Fledermaus“, dass der Sekt vergiftet war und alle nur noch kurze Zeit zu leben hätten. Es folgt Kakophonie, dann Stille, dann die Bewusstlosigkeit. Im Gefängnis wird Alfred bockig und schwingt die Gibson für alte Hits. Der Gefängniswärter Frosch (Tom Gerhards) kriegt sein „Berufsbild“-Solo und die „feine Gesellschaft“ die Erlösung. Den letzten Auftritt hat Linet Arndt. Er trinkt ein Fläschchen leer – und stirbt. Der fette Applaus ist verdient.
Die Fledermaus | 7., 17., 24.4., 3.5. | Kammerspiele Bochum | 0234 33 33 55 55
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