Dieser Theaterabend beginnt mit weißen Papiermasken, die bereits an der Kasse ausgehändigt werden: als Wink an das Publikum, dass sich niemand von den Schicksalen distanzieren könne, um die es in den nächsten 100 Minuten geht. Auf dem Begleitzettel steht der Hinweis, dass es einer gemeinsamen Anstrengung bedürfe, ja, dass andere Entscheidungen fällig seien, um dem Elend und der Gewalt zu entkommen: durch Liebe, Aufmerksamkeit oder Respekt. Klingt nach einem moralischen Ansatz, der nicht verkehrt ist.
Tatsächlich sind es auch nicht wenige, die sich im Saal das Requisit über das Gesicht spannen. Und dann ist absolute Dunkelheit das Erste, in welches das Publikum minutenlang blickt. Nur Stimmen sind zu hören. Sie geben preis, den Sinn des Lebens entdeckt zu haben: den Tod. Zu dieser nihilistischen Erkenntnis kommt in Alice Birchs Stück „[Blank]“ ein Kind – und zwar als es feststellt, bereits gestorben zu sein. Regisseurin Nora Schlocker entschied sich, diese Szene mit dem Titel „Tod“ an den Anfang ihrer Inszenierung in den Kammerspielen Bochum zu setzen.
Auch nachdem das Licht angeht, bleibt die ausweglose Stimmung. Dieses düstere bis zynische Mindset zieht sich durch die gesamte Vorlage, in der Birch von einem Kreislauf aus Missbrauch und Gewalt, Vernachlässigung und Verwahrlosung, Einsamkeit und Isolation erzählt. Die britische Autorin verfasste 100 Gesprächsszenen, Puzzlestücke des Elends, die in jeder Aufführung anders aneinandergereiht werden können. Und Birch machte auch keine Vorgaben, was die Figuren betrifft – ob Namen, Alter oder Geschlecht. Sie wählte nur eine Unterscheidung: zwischen Kindern und Erwachsenen, die ganz unten in der Gesellschaft stehen, sozusagen als „Dropouts“ ihr Dasein fristen.
Da geht es etwa um ein Kind, das schon seit längerer Zeit auf seine Mutter wartet und kein Essen zuhause findet. Da kokettiert wer damit, sich problemlos mit Kabelgedöns aus den eigenen vier Wänden umbringen zu können. Oder da fordert ein Sohn von der Mutter Geld für den nächsten Drogenschuss, um dafür nicht auf dem Strich anschaffen zu müssen. Es sind nur wenige Beispiele von den brutalen und verrohten Worten, die den Akteuren als Gefühlsausbrüche entgleiten. Die acht Schauspieler:innen stecken (bis auf die letzten Minuten) selbst hinter weißen Masken. Ohnehin presst Schlocker die Darbietung in ein enges formales Korsett, was sich ebenso am kargen Bühnenbild (Marie Roth) ablesen lässt: drei beige Wandseiten, ein weißer Boden, auf den die Akteure manchmal erschöpft niedersinken.
Wie in einem Brennglas zeigen Schlocker und Dramaturgin Susanne Winnacker die Auswirkungen eines sozialen Ausschlusses: von der Ohnmacht, der Verzweiflung, aber auch den Sehnsuchtsregungen nach einem anderen Zusammenleben – alles ohne Bewertung, ohne Erklärungen. Genau das ist das Dilemma: Es fehlt an diesem Theaterabend ein kritischer Verweis auf gesellschaftliche Mechanismen, die dieses Elend verursachen, das neoliberale Einmaleins: Sozialkahlschlag, Zerstörung des Wohlfahrtsstaats, Umverteilung von unten nach oben. Am Ende bleibt man umso ratloser und distanzierter zurück: hinter papiernen Masken.
[Blank] | R: Nora Schlocker | 1., 21.6. je 19.30 Uhr | Kammerspiele Bochum | 0234 333 30
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