Die Regisseurin inszeniert das Stück des Autorenduos Nolte Decar, das nur scheinbar eine leichte Komödie ist und gerade durch den Krieg in der Ukraine eine neue Aktualität erhält.
trailer: Frau Heller, das Stück ist mit rund zwei Dutzend Rollen für die Essener Folkwang Universität der Künste ja wie gemacht?
Friederike Heller: Ganz genau. Das hatten wir im Blick, als die Wahl auf diesen Text fiel.
Es gibt nicht viele Texte, bei denen man so viele Schauspielstudierende einsetzen kann.
Na ja, es gibt ja auch große Produktionen im normalen Stadttheaterbetrieb. By the way, es sind zehn Studierende und in unserer Fassung sind es doppelt so viele Rollen. Mir war es wichtig, dass sich diese jungen Menschen alle gleichermaßen gut und wichtig und schön zeigen können. Das heißt, jede Person hat zwei Rollen und kann sich in unterschiedlichen Charakter-Farben präsentieren.
Es scheint eine bitter-süße Teenagerkomödie über den Aufbruch in die Freiheit zu sein?
Ja, es scheint so. Es ist ein Stoff, der leichtfüßig daherkommt. Was mich erstaunt hat: Die Veröffentlichung ist rund zehn Jahre her und damals wie heute war die Auslieferung von Leopard-II-Panzern ein großes Thema. Angesichts des Krieges in der Ukraine erhält das Stück eine neue, scharfe Aussage. Als wir das Stück ausgewählt haben, ging es noch nicht konkret um Panzerlieferungen an die Ukraine, aber ich hatte ein bisschen damit gerechnet, dass das so kommt. Und damit ist dieses Thema jetzt nochmal anders ins Zentrum des Projekts gerückt. Es hat eine gewisse Leichtigkeit, wie diese Jugendlichen ihren Sommer verplempern – bis eben ein Leopard-II-Kampfpanzer in ihre Schule kracht. Plötzlich stehen sie vor der Aufgabe, sich damit auseinanderzusetzen – oder eben auch nicht. In unserem Abend wird es eher darum gehen, wie sie versuchen, dieses schwere Gerät irgendwie in ihren Alltag zu integrieren. Was bleibt ihnen auch anderes übrig? Aber sie schaffen es nicht, eine kritische Auseinandersetzung damit zu führen.
Sind es aber nicht auch Schlaglichter vor dem Fall in eine Welt mit viel Hoffnung und wenigen Möglichkeiten?
Das Adjektiv bitter-süß trifft es sehr schön. Mir ist aufgefallen, dass in den kleinen Geschichtchen, die die Autoren Nolte und Decar erzählen, häufig auch gewisse Verbindungen zu den bitteren Seiten der deutschen Vergangenheit bestehen. Es gibt da laufend Missverständnisse oder Probleme, die auf der deutschen Kollektivschuld oder überhaupt der deutschen Geschichte beruhen. Die Theatergruppe der Schüler vertut sich ja großartig darin, dass sie glaubt, Prinz Friedrich von Homburg sei der preußisch-verschlagene Militarist, und sich dann überlegt, dass „Der zerbrochene Krug“ das bessere Stück für eine Aufführung sei, was ich persönlich heute sehr schwierig zu erzählen finde. Das alles sind Fehler, die die Jugendlichen ohne böse Absicht begehen. Sie verstreiten sich so heillos und sind am Ende froh, dass sie damit nichts mehr zu tun haben, und somit bleibt einfach alles beim Alten. In all diesen Neben-Storys entdeckt man relativ schlimme Grundstrukturen, die da durchschimmern, trotzdem bleibt alles bei einer leichten Tonalität.
Was glauben Sie, wie schnell werden solche bei dem Stück immerhin schon zehn Jahre alten Analysen einer Jugend unbrauchbar?
Ich habe das Stück mit Amüsement wiedergelesen. Ich kenne einige Werke von Jakob Nolte und Michel Decar und die haben so ein schönes Faible für die 1980er. Es gibt einige Referenzen von schnurlosen Telefonen bis hin zu Filmen, die noch nicht gestreamt werden – der Geschmack der Jugendlichen wirkt dadurch ein bisschen zeitlos. Es schimmern die 1980er Jahre durch, aber eben auch die Situation von 2013, als das Stück geschrieben wurde. Es ist eine Art Melange, mit der die Autoren versuchen, eine Universalität zu erzeugen, was die Jugend an sich betrifft.
Wie verhalten sich denn die jungen „Social Network-Schauspieler:innen“ von der Folkwang zu dieser Generationengeschichte?
Wir haben gerade erst angefangen und momentan tauchen sie erst noch ein in das Figurenmaterial, welches das Stück liefert. Ich denke, wenn dann die Konfrontation mit der heutigen Situation mit Social Networks und so weiter beginnt, wird es noch eine Reise werden. Jetzt erobern sie sich erstmal das gegebene Material.
Das Tierreich | 4. (P), 5., 11., 30., 31.3., 5., 6.4. | Kammerspiele Bochum | 0234 3333 5555
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die ultimative Rache vor weißer Schleife
„Die Fledermaus“ mit Schauspielstudierenden an den Kammerspielen Bochum – Auftritt 04/24
„Im Gefängnis sind alle gleich“
Regisseurin Katharina Birch über „Die Fledermaus“ an den Bochumer Kammerspielen – Premiere 03/24
Die Fallstricke des Anthropozäns
„Früchte der Vernunft“ an den Bochumer Kammerspielen – Prolog 09/23
Puzzlestücke des Elends, Papiermasken für Mitgefühl
Alice Birchs „[Blank]“ in den Kammerspielen Bochum – Auftritt 06/23
Das Versinken von Erinnerung
„Der Bus nach Dachau“ bei den Bochumer Kammerspielen – Auftritt 12/22
Dekadenz und Obsession
„Der große Gatsby“ an den Bochumer Kammerspielen – Prolog 06/22
Von Jahoo, einem Unsichtbaren und Prinzessinnen
Ruhr-Theater-Ostereier im April – Prolog 03/20
Das ewige Prinzip Projektion
Das winterlich Weibliche im kurzen Monat – Prolog 01/20
Heilige Reinigung durch Zerstörung
Kollektive Performance über Heiner Müllers „Hydra“ in Bochum – Auftritt 01/20
Schauspielspezialitäten
Interessantes Oktober-Theater an Ruhr und Niederrhein – Prolog 10/19
Fleisch oder Silikon?
Der kürzeste Theatermonat des Jahres – Prolog 01/19
„Theater ist kein Massenmedium“
Johan Simons, Bochums neuer Intendant – Premiere 11/18
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24
„Das Publikum braucht keine Wanderschuhe“
Intendant Ulrich Greb inszeniert „Ein Sommernachtstraum“ am Schlosstheater Moers – Premiere 09/24
„Eine andere Art, Theater zu denken“
Dramaturg Sven Schlötcke über „Geheimnis 1“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Premiere 08/24
„Das ist fast schon eine Satire“
Alexander Becker inszeniert „Die Piraten von Penzance“ am Opernhaus Dortmund – Premiere 07/24
„Es ist ein Weg, Menschen ans Theater zu binden“
Regisseurin Anne Verena Freybott über „Der Revisor kommt nach O.“ am Theater Oberhausen – Premiere 06/24
„Eher die Hardcore-Variante von Shaw“
Regisseur Damian Popp über „Pygmalion – My Fairest Lady“ am Schlosstheater Moers – Premiere 05/24
„Zu uns gehört das Lernen von den Alten“
Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2024 – Premiere 04/24
„Es kommt zu Mutationen zwischen den Figuren“
Intendant Ulrich Greb inszeniert „Der Diener zweier Herren“ am Schlosstheater Moers – Premiere 02/24
„Die Geschichte wurde lange totgeschwiegen“
Ebru Tartıcı Borchers inszeniert „Serenade für Nadja“ am Theater Oberhausen – Premiere 01/24
„Der Mensch braucht Freiraum, um Sinnloses machen zu dürfen“
Rafael Sanchez über „Jeeps“ am Essener Grillo-Theater – Premiere 12/23
„Ich hoffe doch, dass wir alle überleben“
Regisseurin Linda Hecker über „Totalausfall“ am Schauspielhaus Bochum – Premiere 11/23