Ab dem 11. Oktober ist es für alle Interessierten möglich, an der Folkwang Hochschule der Künste in Essen-Werden an der Vorlesung von Günter Steinke und Barbara Maurer „Grundlagen der Neuen Musik“ teilzunehmen. trailer sprach mit dem Komponisten u.a. über die aktuellen Entwicklungen in der Neuen Musik.
trailer: Herr Steinke, ich beginne mit einer pointierten Frage: Ist das, was man „klassische Musik“ nennt, am Ende? Gibt es überhaupt noch eine Entwicklung?
Günter Steinke: Natürlich gibt es eine Diskussion, ob man nicht, wenn man für die klassischen Orchesterinstrumente schreibt, nicht klassische Musik nur noch zitiert. Das kann man so mal in den Raum stellen. Dieses alte Instrumentarium ist das, wofür Musik in der Tradition geschrieben wird, auch wenn sie jetzt in einem anderen klanglichen Gewand daherkommt. Deswegen gibt es bei den jüngeren Komponisten viele, die ablehnen, für große Orchester zu schreiben, weil sie lieber mit ihrem eigenen Instrumentarium und der Erweiterung in den elektronischen oder digitalen Bereich arbeiten. Dieser zeitgenössische Bereich entwickelt sich gerade sehr schnell weiter.
Nur: Das Orchester ist ein wertvoller Kosmos. Da müssen wir eine Diskussion über Werte führen: Ist es der Mühe wert, sich heute noch um die klassische Musik und die Orchesterlandschaft zu kümmern? Ich bin natürlich ein Verfechter davon: Das ist etwas, was uns hier in Deutschland auszeichnet. Speziell auch im Ruhrgebiet haben wir eine der reichhaltigsten Orchesterlandschaften weltweit. Für Komponisten ist es toll, damit zu arbeiten – das ist ein Eldorado der Fantasie. Im Orchester können viele Klänge gedacht werden. Heute ist es auch nicht mehr so wie vor 50 Jahren, dass „klassische“ und „neue“ Musik gegensätzliche Positionen waren. Jetzt ist eher der mediale und digitale Bereich als Gegenspieler bemerkbar. Wo man um eine neue Klanglichkeit ringt, ist der Vorteil gegenüber der Digitalität, dass es eine lebendige Hervorbringung von Klang durch den Menschen ist. Das ist ein riesiger Vorteil und eine ganz andere Welt der Klangsensibilität. Der Klang ist ein Ereignis, das im Moment entsteht. Im Digitalen ist es die Wiederholung.
Kann man die Unmittelbarkeit und Unwiederholbarkeit nicht auch digital erzeugen? Ich denke an DJs, die Mischungen produzieren, die nur einmal stattfinden?
Das ist nur eine Verlagerung des Problems. Was ist neu? In der Pop-Musik gibt es sicher experimentelle elektronische Musik, aber der große Bereich des Pop dreht sich um sich selbst und ist die Wiederholung des Immergleichen in neuem Gewande. Auch dort findet Innovation in Nischen statt.
Ist es nicht schon seit etwa der Mitte des 20. Jahrhunderts so, dass sich Innovation in Nischen abspielt? Arnold Schönberg war ja kein Mainstream-Musiker. Und wann gab es das letzte neue Werk, das sich auf einen Schlag durchgesetzt hat, wie in den zwanziger Jahren?
Da könnte ich Ihnen eine ganze Liste aufzählen, von Stockhausen angefangen bis Boulez und die großen Werke von Luigi Nono wie „Intolleranza“; auch Werke von György Ligeti wie „Atmosphères“, Iannis Xenakis mit seinen elektronischen Werken, computergenerierter Instrumentalmusik und „Metastaseis“ als großes Orchesterstück. Aber es ist auch eine grundlegende Erfahrung des 20. Jahrhunderts, dass die „großen Ereignisse“ vorbei sind.
Werden solche prägenden Werke der Neuen Musik nicht doch nur bei Festivals und an bestimmten Orten gespielt?
Die Innovation hat sicher etwas Außergewöhnliches. Wir hingen in der Folge der Romantik sehr dem Geist des Individuums nach – der Geniekult und die Individualisierung sind dafür ein Merkmal. Die Neue Musik hat in Westeuropa nicht unbedingt die Kommunikation mit der Allgemeinheit gesucht. Dahinter steht der Gedanke, Musik solle etwas „zum Beißen“ geben, außergewöhnlich sein, ein Erlebnis über bloße Schönheit hinaus gewähren.
Geht nicht die breite Entwicklung ganz woanders hin?
Das sehe ich auch, aber ich glaube, dass ein Live-Konzert als Ereignis von konzentrierter Kontemplation nicht zu ersetzen ist. In der Musik hat sich die Sprache der Ideen individualisiert. Es gibt nicht mehr den einen Stil; das ist seit Schönberg passé. Die neue Musik hat die alte nicht abgelöst, sondern diese hat in Form eines Neoklassizismus weitergelebt. Von da an sind die Richtungen parallel gelaufen. Die neue Musik musste auch nicht mehr den Alltag bedienen: Wir Komponisten hatten eben nicht jeden Sonntag eine neue Kantate zu schreiben, sondern die Musik aus 400 Jahren ist verfügbar. Das war in früheren Zeiten nicht so.
Das ist ein schwerwiegender Bedeutungswandel der Musik in der Gesellschaft.
Das ist eine Frage der Kommunikation. Findet diese nur noch statt mit dem Publikum, das im bürgerlichen Kulturbetrieb zu Hause ist und in Oper und Konzert geht? Dann gibt es den „Underground“, der mit Elektronik in ganz andere Räume geht. Die Gefahr ist der Manierismus: Ist es schon so weit, dass sich die Neue Musik in ihrem eigenen Stil nur noch um sich dreht und den Kern der eigenen Idee nicht mehr zu fassen bekommt?
Wo sehen Sie die großen Entwicklungslinien beim Schreiben neuer Musik? Gibt es die, oder kann man im Grunde nur noch die kreative Einzelperson betrachten?
Es gibt übergeordnete Klangästhetiken. Eine davon ist der Spektralismus französischer Prägung, der sich in den siebziger Jahren als Reaktion auf den Serialismus der fünfziger Jahre entwickelte und wieder zur Natur der Klänge zurückkehren wollte. Man dachte vom Klang her und nicht von einer abstrakten Konstruktion. Das ist heute weit verbreitet. Die andere Entwicklung ist die „musique concrète instrumentale“, wie sie Helmut Lachenmann geprägt hat. Sie etablierte das Geräuschhafte: Ein Instrument spielt nicht nur einen Ton, sein Klangspektrum wird erweitert, etwa durch Luftgeräusche bei den Bläsern oder Bogengeräusche bei den Streichern. Immer stärker wird derzeit das Performative in der Musik: Musik nimmt auch das Zusehen mit hinein, eine Tradition, die etwa schon Mauricio Kagel grundgelegt hat.
Heute gibt es doch auch ein anderes Bewusstsein für das Material?
Ja, man denkt nicht nur in Tönen, Harmonik, Rhythmus, sondern nimmt andere Materialien mit hinein, etwa beim Präparieren von Instrumenten. Dahinter steckt die Idee, zu einer anderen Klangsprache zu kommen. Enno Poppe, der in der Mikrotonalität arbeitet, oder Rebecca Saunders, die Resonanzen untersucht, sind dafür Beispiele. Man kann schon klare, große Richtungen feststellen.
Was machen Sie als Unterrichtender mit den jungen Leuten an der Folkwang Hochschule für Erfahrungen?
Gerade bei den jungen Studierenden geht die Schere auseinander. Viele wollen die Tradition, wollen mit dem Handwerk des späten 20. und des 21. Jahrhunderts komponieren – wenn Sie so wollen, eine konservative Haltung. Dann gibt es die anderen, die alles wegwischen und stark mit Elektronik arbeiten, performen und neue Arten des Erzeugens von Musik ausprobieren. Der digitale Bereich wird in Zukunft stärker präsent sein, Digitales und Analoges werden verschmelzen. Wir wollen an der Hochschule das Handwerkliche vermitteln und den Studierenden grundlegende Denkweisen mitgeben.
Wer sind Ihrer Ansicht nach die führenden Köpfe des Komponierens der Gegenwart?
Der große Einfluss von Helmut Lachenmann ist da. Er ist von seinem geistigen Horizont her ein Übervater. Dann nenne ich Mark Andre als seinen ästhetischen Sohn. Natürlich auch Rebecca Saunders, Enno Poppe, Vito Žuraj aus Slowenien und Clara Ianotta aus Italien. Es gibt viele spannende Komponisten, die in der Verfeinerung von Klang arbeiten, ihre eigene Kraft haben und Zukunftsperspektive entwickeln. Außerdem löst sich das Komponieren als Männerdomäne auf. Frauen sind sehr viel präsenter.
Sie arbeiten beim Festival NOW! der Philharmonie Essen mit, das am 27. Oktober unter dem Stichwort „Horizonte“ beginnt. Was steht dabei im Zentrum?
Wir haben einige außergewöhnliche internationale Projekte aus dem Pandemiejahr 2020, die wir nachholen. Das ist das Korea-Projekt, mit dem das Festival beginnt. Es wird am 28. Oktober ein Konzert mit jüngeren Komponisten aus Korea und koreanischen Instrumenten geben. Am 29. Oktober kommt der Sohn von György Ligeti, Lukas, mit einem neuen Werk zu einem Konzert, bei dem seine afrikanische Band „Burkina Electric“ auf das Kölner Ensemble BRuCH trifft.
Ein Riesenprojekt ist „Game-Land“ am 1. November, zu dem das indonesische Gamelan-Ensemble Kyai Fatahilla anreist, das einzige, das Noten lesen kann. Es spielt Kompositionen von seinem Leiter Iwan Gunawan und einem Deutschen, der viele Jahre in der Musikszene Indonesiens unterwegs war, Dieter Mack. Am 4. November gibt es ein großes Orchesterkonzert, „The Tears of Nature“, mit Werken von Malika Kishino, Tan Dun, Toshio Hosokawa und Unsuk Chin. Am 6. November ist das WDR Sinfonieorchester zu Gast und spielt „Ata“ von Iannis Xenakis sowie Uraufführungen von Georges Aperghis, Mihatcan Öcal aus Istanbul und mein neues Stück, „Horizonte“ für Orchester.
NOW! Festival für Neue Musik – Horizonte | 27.10. - 6.11. | Philharmonie Essen | 0201 812 22 00
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