Wie nähert man sich historischen Wahrheiten an, ohne eine Vorlage zu verraten. Schiller hat seinen Titelhelden Don Karlos zu einem Freiheitskämpfer stilisiert, der er nie war. Der historische Karl soll geisteskrank gewesen sein. Jonas Friedrich Leonhardi trägt in der Düsseldorfer Inszenierung rote Lippen zu weißer Gesichtstünche und aufgerissenen Augen. Alexander Eisenachs Klassikerinszenierung macht aus dem pathetischen Titelhelden einen neurasthenischen Spielball der Interessen in einer heiß laufenden Intrigenmaschine. Öffentlichkeit gibt es nicht, alle Granden und Hofdamen sind gestrichen. Hier kämpft jeder für sich selbst. Wenn am Ende alle Pläne gescheitert sind, rauscht eine Sturzflut roter Bällen herab, der Himmel weint blutige Tränen.
Die Bühne besteht aus einem Wachturm und einem mit Acrylglasplatten belegten Metallpodium, das sich später teilt und dessen Arme an den Turm andocken. Mit der Teilung beginnt die Bühne sich zu drehen, die Intrige nimmt Fahrt auf. Karlos liebt die ihm versprochene, dann aber von seinem Vater Philipp gekaperte Elisabeth (Lea Ruckpaul). Doch die will hier nur wenig von ihm wissen. Als sie selbst in Verdacht gerät, wird sie zur Furie und schlägt sich die Stirn blutig. Und Posa, der mit Karlos als Strohpuppe das protestantische Flandern aufwiegeln will, ist bei André Kaczmarczyk ein flatterhafter Träumer, der seinen angeblichen Freund als Menschenmaterial seines Idealismus verheizt.
Lena Schmids historische Kostüme, unter denen die Gegenwart durchscheint, setzen ein distanzierendes Moment. Hier wird Schiller samt Freiheitskampfes gegen Despoten auchgespielt. Und so sind auch die Diktatoren vor Intrigen nicht sicher. Im ersten Teil wirkt Wolfgang Michaleks Philipp fast leger in seinem Machtbewusstsein. Ein scharfer Ton, eine Handbewegung reichen aus. Im bildmächtigen zweiten Teil kann man der mentalen Zersetzung und Irritation dieses Gewaltherrschers zusehen, als der Militär Alba (Sebastian Tessenow) sich als gefederter Blutengel mit Zitaten von Björn Höcke geriert. Der Großinquisitor ist dann bei Karin Pfammatter in Pulli und Jeans nur noch kalt lächelnde Gegenwart. Das Heute hat alle Utopien zur Strecke gebracht. Knapp vier Stunden Spieldauer sind viel, aber vor allem der zweite Teil lohnt den Besuch.
„Don Karlos“ | R: Alexander Eisenach | 8.2. 19.30 Uhr, 7.2., 3.3. 16 Uhr | Düsseldorfer Schauspielhaus | 0211 36 99 11
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Die Erbsen sind immer und überall
„Woyzeck“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Prolog 02/24
Wolf oder Schaf
„Mindset“ am D’haus Düsseldorf – Prolog 10/23
Machtspiele
„Maria Stuart“ am Schauspielhaus
Hamsterrad Kapitalismus
„Kleiner Mann – was nun?“ in Düsseldorf – Bühne 10/21
Undurchdringliche Welt
Jan Philipp Gloger inszeniert „Das Schloss“ in Düsseldorf – Theater Ruhr 10/18
Hölle, wo ist dein Stachel?
„Die Göttliche Komödie“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Bühne 07/18
Wie es den Kwants gefällt
Philipp Löhles „Die Mitwisser“ in Düsseldorf – Theater Ruhr 06/18
Travestie und Lumpenchic
Brechts „Dreigroschenoper“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 12/17
Träum weiter
„Der Sandmann“ in Recklinghausen und Düsseldorf – Theater Ruhr 06/17
Friendly Fire
Düsseldorf kauft Rechte am Schauspielhaus – Theater in NRW 03/17
Kammerspiel des ewigen Singles
Bühnen-Vorschau: „Finnisch“ im Schauspielhaus Bochum am 13.1. – Theater Ruhr 01/17
Wasserwürmer im Gewitter
„Das Käthchen von Heilbronn“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 01/17
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20
Ein hochemotionaler Spiegel
Khaled Hasseinis „Drachenläufer“ in Castrop-Rauxel – Theater Ruhr 01/20