„Moderationskapitän“ Jason Bartsch lud am verregneten zweiten August-Donnerstag zum „einzigen Slam auf den Wellen des Rhein-Herne-Kanals“ ein, wie ihn die Veranstalter anpreisen. Gefördert vom kommunalen Kulturbüro, wurde das 'Jungpoeten-Duell' einmal mehr auf dem „Kulturschiff Herne“ ausgetragen.
Texte mit lyrischer Tiefenschärfe werden beim Slam nicht immer belohnt. Anders beim jüngsten Wettlesen auf dem „KulturKanal“ zwischen Herne und Gelsenkirchen: Mit eher leisen und hintergründigen poetischen Texten wusste die inzwischen 23-jährige U20-Meisterin von 2012, Jule Weber, beim Kräftemessen der Wortakrobaten vor etwa 140 Gästen an Bord des Kulturschiffs am meisten zu begeistern.
Bedächtig schiebt sich der Ausflugsdampfer den Rhein-Herne-Kanal hinab, vorbei an der Cranger Kirmes. „Kulturschiff Poetry Slam 2016“ steht auf einem überdimensionalen Lebkuchenherz, das etwa die Fläche des Sicherheitsplans am Treppenabgang einnimmt. Unter Deck sitzen die Künstler. Voll ist es auf dem Schiff schon nach dem Ablegen von der Künstlerzeche Wanne-Eickel, und nach dem zweiten Halt in Herne-Crange sind nicht mehr viele Plätze frei. Hinter beschlagenen Scheiben funkeln die bunten Lichter der dort zeitgleich stattfindenden Kirmes. „Machen wir jetzt hier Pause?“, fragt schon der erste Gast, als sich das Schiff nicht vom Kirmesanleger wegbewegen will. Dann endlich geht es los und der Kapitän legt mit einem 'Opferlamm-Text' los, mit dem der Moderator einen Slam zu eröffnen pflegt. Unter dem Titel „Heiterkeit als Recht auf Freizeit“ behandelt er das scheinbare Paradoxon 'Humor in Deutschland', wo selbst „das Funkeln der Sterne aus Frust verstummt“.
Nach diesem kurzweiligen Auftakt legt der Hamburger Danny Grimpe als erster der insgesamt vier SlammerInnen beim Poeten-Wettstreit nach. Seinen skurrilen Protagonisten lässt der 22-Jährige bei One-night-stands aus Chemiebüchern zitieren und über Politik sinnieren. Als sich ein Antifa-Punk namens Kralle dauerhaft bei ihm zuhause eingenistet hat und auf seiner Couch „Sitzblockade, Sitzblockade“ skandiert, kommentiert er lakonisch: „Wenn alle Demos so erfolgreich wären, hätten wir seit letztem Montag Atomausstieg, weil wir jetzt mit Büchern von Sarrazin heizen.“ Einem Teil der hierdurch polarisierten Publikumsjury sind solche Ansagen offenbar zu heiß, sodass es Danny Grimpe nicht ins Finale schafft.
Doch auch die erste Frau im Feld erzeugt mit ihrem Vortrag sehr gemischte Voten: Die routinierte Slammerin Anke Fuchs steigt in den Ring, als das Kulturschiff gerade Gelsenkirchen erreicht – einen Ort, den Moderator Jason Bartsch just mit einem der romantischsten Momente verbindet, die er im Ruhrgebiet erlebt habe, als er auf dem Tetraeder in Bottrop stehend „über der Gelsenkirchener Müllhalde die Sonne habe aufgehen sehen...“ Beim Durchqueren der Schleuse rumpelt es leicht, als Anke Fuchs mit einem Text über altgewordene Jungverheiratete loslegt. „Spatz- und Maus-Mann“ Lukas versucht verzweifelt seine Beziehung zu retten, indem er mit der Liebsten, die er vorzugsweise mit den genannten Tiernamen anredet, wie in Teenie-Zeiten nach Holland in den Zelturlaub fährt, der nach sandigem Dünen-Gekuschel doch im Hotel endet. Auch ihr zweiter Text über „Heimat“, die „überall das“ sei, „was wir verteidigen“, kann die Jury nicht einhellig begeistern, sodass für die Bonnerin ebenfalls nach der Vorrunde Schluss ist.
Mehr Erfolg hat der Berliner Märchen-Slammer Max Gebhard, der mit einer Froschkönig-Adaption mit dem Untertitel „Linden haben dicke Schenkel“ eine „Stief-MILF wie sie im Buche steht“ sowie den Plagiat-Barden von Guttenberg bedichtet. Danach lässt er die griechischen Götter in die irdische Gegenwart hinabsteigen und Dionysos im Schatten Fukushimas Wein anbauen. „Die Kunst ist tot, die Welt zertrümmert“, als sich Hermes um den Mail-Verkehr auf Erden kümmert und plötzlich der Ausruf „Fuck you, NSA!“ durchs Kulturboot hallt, bevor Kanzlerin Merkel die Pleite-Griechen Orpheus & Co. wieder zurück in den Orkus schickt. Auch im Finale dichtet der 22-jährige Max Gebhard in freiem Vortrag munter weiter und trägt mit „Des Kaisers neue Kleider – oder auch Seemannsgarn“ eine Hommage an Hans-Christian Andersen vor. Während der seemännische Protagonist in einer imaginierten Hafenkneipe augenblinkend zum Besten gibt, „wie er Kim Jong-un höchstselbst beim Kniffel schlug“, mutiert der titelgebende Kaiser zum H&M-Unternehmer und macht in „Humbug und Mode“. Doch auch der Künstler laufe Gefahr, sich – eh' man sich's versieht – an den Markt zu verkaufen, so die Moral von der Geschicht'.
Vielleicht spürt das Publikum ein (noch) authentischeres Poeten-Gen bei Jule Weber, die es als letzte Künstlerin der Vorrunde ebenfalls ins Finale schafft. Feinfühlig und zurückhaltend versetzt sie sich zunächst in den tristen Arbeitsalltag des Protagonisten Holger zwischen „Mausklick, Telefon, Mausklick, Feierabend.“ Empfangsdame Judith beachtet ihn nicht. Vielleicht aber immer noch besser als ein Leben von Hochseehaien, die immer in Bewegung bleiben müssen, da sie sonst sterben – 24 Jahre lang. Die Janusköpfigkeit des Seins pointiert die ehemalige U20-Poetryslam-Meisterin dann virtuos in ihrem Text „Narziss“: „Ich morde mich selbst – werde Opfer und Täter.“ Doch wer eine selbstreflexive Nabelschau hierin wittert, der irrt – denn: „Das, was in mir brodelt, gehört auf keine Bühne.“
Längst schon befindet sich das Kulturschiff auf der Rücktour vom Wendepunkt, dem Nordsternpark Gelsenkirchen, und die Schleuse ist ein zweites Mal passiert, als Jule Weber von zitternden Beinen vor einem Fallschirmsprung als Resultat eines Trinkspielabends berichtet: „Es fehlt nur noch ein allerletzter kleiner Schritt.“ Ihr finaler Text „Andromeda oder manchmal bin ich eine Heldin für Dich – oder wäre es zumindest gerne“ ist Menschen mit Kindern gewidmet. Und als die kleine Heroin des Abends dann schließlich per Applausentscheid zur Siegerin gekürt wird und Moderationskapitän Jason Bartsch ihr das riesige Lebkuchenherz umhängt, das in den Vorjahren meist der Dortmunder Slammer Tobi Katze gewann, sagt sie wie selbstverständlich: „Meine Tochter wird sich darüber freuen.“ Ein schöner Ausklang eines verregneten Abends.
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