Uhren diktieren oft, was wann erfolgt: von Abfahrplänen des ÖPNV bis zu Stundenplänen an Schulen. Jeder Tag, jede Stunde erscheint strengt getaktet. Und alle haben diese Zeitvorgaben verinnerlicht. Fast alle. Denn gerade Menschen mit Behinderungen oder psychischen Erkrankungen stoßen dabei unfreiwillig auf unsichtbare Barrieren, die Extra-Zeit beanspruchen: etwa für längere Wege oder größere Ruhephasen. Diese Zeiterfahrung anderer Art begründet eine komplexe, eigene Wahrnehmung von Lebenswelt, und wird mit dem Begriff „Crip Time“ bezeichnet.
An dieses Konzept knüpft der Choreograf, Performer und Theoretiker Michael Turinsky an: als Einspruch gegen einen Imperativ, der behinderte Körper in die herrschenden Mobilitätskonzepte integrieren will. Turinsky leidet seit seiner Geburt an Zerebralparese und sitzt im Rollstuhl. In biografischen bis intimen Bühnenarbeiten widmet sich der Wiener einer Phänomenologie, die Körper als „behindert“ klassifiziert. Zu den Motiven seiner Choreografien gehört daher das Verhältnis zur normativen Infrastruktur, Mobilität und Alltagsstruktur, die viele unhinterfragt einhalten.
Wer das nicht kann, erfährt Raum und Zeit anders: einerseits durch aufgebrachte Mühe, um die Dinge zu bewerkstelligen, den Körper in der normativen Umgebung in Bewegung zu setzen. Andererseits geht es ebenso um eine Qualität der Langsamkeit, die Turinsky in seinen Performances herausschält: als Perspektive auf die Überholspur, als Eigensinn in einer beschleunigten Gesellschaft. Der studierte Philosoph spricht im Hinblick auf diese erkenntnisstiftenden Momente auch vom Entwerfen choreo-politischer Ästhetiken.
Das gilt wohl auch für seine Solo-Performance „Precarious Moves“, für die er 2021 mit dem wichtigsten österreichischen Theaterpreis „Nestroy“ ausgezeichnet wurde. Denn das Stück lotet auf der Bühne anhand des Konzepts der „Crip Time“ das eigene In-der-Welt-Sein aus. Dafür exerziert Turinsky jene Bewegungen, welche dem Publikum Grenzen vor Augen führen, denen er selbst aufgrund körperlicher Einschränkungen ausgesetzt ist. Zugleich zeigt der Künstler Möglichkeiten auf, wie eine barrierefreie Gestaltung gelingen kann. Das geschieht mal intellektuell oder ironisch, mal verspielt oder sinnlich. Und das verheißt viel für ein Aufklärungsstück über Immobilität.
Precarious Moves | C: Michael Turinsky | 1.7. 20.30 Uhr, 2.7. 17 Uhr | Weltkunstzimmer, Glashalle
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