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Olaf Kröck
Foto (Ausschnitt): Oliver Mark

„Wir eilen nicht voraus und bringen uns zum Verschwinden“

28. April 2021

Intendant Olaf Kröck über die Ruhrfestspiele 2021 – Premiere 04/21

trailer: Herr Kröck, 75 Jahre Kunst gegen Kohle – ist das Theaterfestival nicht zu alt, um von historischen Brettern auf digitale Pixel umzuschalten?

Olaf Kröck: Wenn die Corona-Pandemie eine Sache wirklich gezeigt hat, dann dass niemand zu alt für Digitalität ist. Alle, Großeltern, Eltern und auch Kids im Grundschulalter sind jetzt Digital-Profis. Das heißt nicht, dass alle immer sofort die Kamera oder den Ton im Computer finden, aber es funktioniert und ich finde, man kann nicht alt genug sein, um den Schritt ins Digitale zu tun. Die Ruhrfestspiele waren immer wandelbar und das werden sie auch in den nächsten 75 Jahren noch sein.

Wie groß ist denn momentan die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle nur im Digitalen bewegen dürfen oder müssen?

Wenn ich das wüsste. Das hängt von so vielen Faktoren ab und die wenigsten steuern die Ruhrfestspiele selbst. Wir haben uns entschieden, das Live-Festival in jedem Fall vorzubereiten, denn das braucht den längsten Vorlauf. Wir haben uns aus gutem Grund ein Jahr lang zurückgezogen, aber sind jetzt nicht vorauseilend und bringen uns selbst zum Verschwinden. Wir sind bereit, wir können, wenn wir dürfen, also wenn die Pandemie das erlaubt.


Von Macht und Mitgefühl zu Utopie und Unruhe. Wo in aller Welt kommt die Utopie her?

Ich glaube, wir hatten noch nie eine so sichtbare Zeit, die utopische Räume aufgemacht hat, seit langer Zeit jedenfalls nicht. Weil wir im Moment so viele gesellschaftliche Sollbruchstellen sehen, die viel Unruhe erzeugen. Da geht es mit den sichtbaren Ungleichheiten im Bereich der Bildungschancen los. Und da hat beispielsweise die „Black Lives Matter“-Bewegung im letzten Jahr deutlich aufgezeigt, welche Privilegen sich eine weiße Mehrheitsgesellschaft aneignet, strukturelle Defizite ständig ignoriert oder auch verleugnet, obwohl sie ja offenkundig da sind. Unter hinter all diesen Unruhepunkten scheint aber ein großer utopischer Raum auf. Es wäre eine bessere Welt möglich, wenn wir die Probleme angehen, wenn wir versuchen, sie konstruktiv und unter der Einbeziehung von Wissenschaften – und nicht nur in einem Eitelkeitsranking – wirklich mal anzugehen.

„Die Ruhrfestspiele werden auch in den nächsten 75 Jahren wandelbar sein"

Zum Beispiel René Polleschs Stück „Number Four“ im Programm, wenn ich das so von außen betrachte, dann riecht das auch schon etwas nach einer Abrechnung mit der repräsentativen Demokratie, oder?

Ich weiß nicht, ob das Abrechnungen sind. Es ist ein Infragestellen. Da sind wir bei der Utopie. Wir sehen Bruchstellen. Wir sehen, wo unsere Systeme nicht perfekt funktionieren, wo sie renovierungs-, reformbedürftig sind. Aber nur weil wir jetzt den Finger auf extrem sichtbare Schwachstellen legen, heißt das nicht, dass das System insgesamt nicht funktioniert. Das System braucht Veränderung, braucht ein Update und mehr Expertise, die die Sache betrifft. Wir haben gemerkt, dass das, was wir hier zu bewältigen haben nicht geht wenn wir nicht die vielfältigsten Varianten von Expertise miteinbeziehen und versuchen die umzusetzen. Wir laufen gerade alle mit FFP2-Masken durch die Welt und das hat einen Sinn, auch wenn wir uns das vor einem Jahr nicht hätten vorstellen können. Und die große Mehrheit versteht diesen Sinn, die paar Bekloppten lassen wir mal außen vor.

Kommt man mit Kunst denn überhaupt zwischen die Allianz zwischen korrupten Volksvertretern und der Industrie?

Nicht alle Volksvertreter sind korrupt, das finde ich ein ganz falsches und auch gefährliches Politikerbild. Ich habe ganz viele politische Akteure kennenlernen dürfen, die extrem an Sachvorgängen interessiert sind und zwar von unterschiedlichster politischer Couleur und das ins Zentrumstellen von Ausreißern finde ich hochproblematisch. Wir haben gesehen, dass politische Entscheidungsträger zu Beginn der Pandemie nicht wussten, wie das geht und das muss man Menschen zugestehen, dass sie, indem sie versuchen etwas zu bewältigen, ohne zu wissen, was richtig und was falsch ist, einfach schlicht auch Fehler machen. Dass da Einzelne kommen und extrem egoistische Vorteile daraus ziehen wollen muss man anprangern, muss man deutlich machen, aber dies Verhalten auf alle zu übertragen finde ich populistisch. Die Kunst muss immer wieder genau hinschauen und diese Sollbruchstellen im Zweifelsfall vergrößern und da – das haben wir im letzten Jahr gelernt – nicht vor sich selbst Halt machen, sondern auch die eigenen Privilegien in den Blick nehmen und die eigenen blinden Flecke mitthematisieren.

„Kinder- und Jugendtheater versteckt sich vor nichts mehr“

Reicht es vielleicht schon, wenn Kinder zu Wutschweigern werden – um auf das Programm der Ruhrfestspiele zurückzukommen?

Ich finde, den Kindern gehört die lauteste Stimme in dieser Zeit, die allerlauteste. Sie sind die Schwächsten, was die Lobby betrifft, und sie leisten meiner Meinung nach einen der größten Beiträge zur Bewältigung der Pandemie, weil sie auf das verzichten, was für ihre Entwicklung zählt, nämlich auf soziale Kontakte. Deswegen brauchen Kinder im Augenblick eine sehr starke Lobby. Und da kann Kunst durchaus auch eine Lobby sein.


„Voller Ehrfurcht und Vorfreude“: Die Seidentrommel. Ein modernes Nō-Spiel. Regie und Choreografie: Kaori Ito & Yoshi Oida, Foto: Christophe Raynaud-de-Lage

Kann es sein, dass die Kinder- und Jugendtheater momentan radikaler sind als das tradierte Schauspiel mit den Krisen- und Aufklärungsinszenierungen?

Sie haben vollkommen recht. Es ist auf jeden Fall so, dass sich das Kinder- und Jugendtheater vor nichts mehr versteckt und ein ganz großes ästhetisches Selbstbewusstsein hat und das ist gut so. Weil es eine fantastische Kunstform ist, die in nichts der Kunstform, die sich vornehmlich an Erwachsene richtet nachsteht. Ich will das gar nicht in einen Vergleich setzen, das ist einfach eine andere Theaterkunstform, die extrem und zu recht selbstbewusst ist.

Kommen wir nochmal zur Utopie: Das Verhältnis von Regisseurinnen zu Regisseuren beträgt bei den Ruhrfestspielen ungefähr 10 zu 1 zugunsten der Männer. Woran liegt das denn?

Das liegt an vielen Faktoren und einer ist tatsächlich die Pandemiebewältigung. Das ist keine Entschuldigung, das ist nur ein Faktor. Gerade bei den in Anführungsstrichen großen Produktionen mussten wir auch auf Möglichkeitsräume zugreifen, die momentan verfügbar sind. Ich bin deshalb so froh, dass diese Arbeit „Orlando“ aus Hannover von Lilly Sykes inszeniert auch dabei ist. Aber sie haben vollkommen recht, ich habe das vorhin auch selbstkritisch gemeint. Es ist auch meine und unsere Aufgabe als Theaterleiter, als künstlerische Leitungen von solchen großen Institutionen, die Diversität stärker und deutlicher zu befördern. Ich glaube, wir machen da gerade einen ganz guten Schnitt auch in der Repräsentanz von Menschen anderer Herkünfte. Aber in der Vielfalt ist da noch Luft nach oben, auch weil wir nach einer bestimmten Kunst geschaut haben und weniger nach einer bestimmten Parität. Das entschuldigt das nicht, da muss man dranbleiben.

„Einer der vielleicht größten Weltkünstler“

Und mit dem „Heraus zum 1. Mai“-Happening wird es wohl auch nichts?

Ich hoffe darauf, dass die Gewerkschaften eine Kundgebung machen. Es haben viele zu Corona-Zeiten aus weiß Gott weniger bedeutsamen Punkten zu Demonstrationen aufgerufen. Das Kulturvolksfest werden wir nicht veranstalten, weil das wäre unvernünftig. Wir bieten aber den Workshop „Exit Racism“ von Tupoka Ogette an

Letzte Worte zum großartigen asiatischen Auftakt: Chapeau!

Vielen Dank. Ich bin jetzt schon voller Ehrfurcht und Vorfreude auf einen der vielleicht größten Weltkünstler, den japanischen Schauspieler Yoshi Oida mit seinen 87 Jahren ein zweites Mal in meinem Leben zu treffen. Ich hatte schon mal das Vergnügen aber das ist sehr lange her.

75. Ruhrfestspiele | 1.5. bis 20.6. | Recklinghausen | Ruhrfestspiele

trailer verlost jeweils 1 Streaming-Ticket für „Sacre“ und „Orlando“.


INTERVIEW: PETER ORTMANN

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