Seit fast 30 Jahren zieht das Literaturbüro Ruhr in Gladbeck sozusagen vom Rand des Reviers aus die literarischen Strippen an der Ruhr. Unter der Leitung von Gerd Herholz hat es sich etabliert als Veranstalter hochkarätiger, bisweilen auch elitär daherkommender Lesungs- und Diskussionsreihen, die auch internationale Gäste ins Ruhrgebiet holen. Näher an der hiesigen Szene wollen zwei Institutionen arbeiten, die sich erst kürzlich gegründet haben. Da ist zum einen das literaturhaus.dortmund, dem wir uns im September widmen werden, und zum anderen die nominell in Gelsenkirchen verortete Ruhrpoeten e.V.
Dabei ist der Name durchaus irreführend, denn organisiert haben sich hier einmal nicht Schriftsteller, sondern ein recht bunter Haufen Literaturinteressierter. Initiiert wurde der Verein von Schauspieler Till Beckmann, der bereits zwei Ruhrgebiets-Literaturwettbewerbe ins Leben gerufen hat, deren Gewinner nicht bloß mit einem Preis ausgezeichnet werden, sondern im Rahmen einer Lesetour gemeinsam mit Schauspielern und professionellen Vorlesern vor Publikum treten. Durch die Kooperation mit dem Essener Klartext-Verlag entstehen zudem Anthologien mit den besten Texten. Till Beckmann freut sich, „dass aus der kleinen Idee jetzt ein Verein mit wunderbaren Mitgliedern entstanden ist.“ Die Arbeit mit den Literaturwettbewerben haben in den vergangenen Jahren in erster Linie Beckmann und Kathrin Butt vom Klartext-Verlag allein gestemmt. „Jetzt haben wir Leute, die das wirklich können“, grinst er.
„Das Ruhrgebiet, dieses schwer zu fassende Ungetüm, ist eine Fundgrube für Geschichten“, erläutert der Literaturliebhaber seine Motivation: „Und ich brenne für gute Geschichten und für diese Region, der ich in einer Art Hassliebe verbunden bin. Diese Geschichten zu bergen und die Region literarisch zu vermessen, das ist meine Motivation. Mir bleibt auch nichts anderes übrig, da ich nicht gerade ein Kosmopolit bin. Meine Hoffnung ist, dass sich der Verein dauerhaft weiterentwickelt und von mehreren kritischen Geistern angetrieben wird. Dass das Ganze nachhaltig wirkt.“ An dieser Stelle stockt er kurz, denn den Begriff der Nachhaltigkeit hat er eigentlich vermeiden wollen. Aber welchen Begriff soll man sonst wählen für ein Projekt, das so sehr auf den Fördergedanken setzt: „Weiter hoffe ich, dass wir immer mehr werden und dass wir dem Nachwuchs weiter eine kleine Plattform oder Startrampe bieten können.“
Mehr Geschichten als Trinkhallen
Doch wie genau wollen sich die Initiatoren in der Szene verorten? Mit welcher Motivation beteiligen Sie sich an dem Projekt? Der Autor, Slammer und Medienkünstler Rainer Holl, nicht nur Gründungsmitglied, sondern in diesem Jahr auch Jurymitglied, beschreibt sein Interesse so: „Ich schätze die Idee hinter dem Projekt und den Elan und die Energie der Akteure dahinter. Das verstehe ich unter Literaturaktivismus. Nur so kann es gehen. Nur so kann sich etwas bewegen. Und nur wenn sich diese Begeisterung auf andere übertragen und teilen lässt, kann ein solches Projekt lebendig bleiben. Ich hoffe, dazu beitragen zu können, diese Begeisterung zu vermitteln und somit auch das literarische Leben im Ruhrgebiet aktiv mitzugestalten. Es geht darum Energien zu bündeln, Synergien zu schaffen. Und es geht um Geschichten. Davon haben wir mehr als Trinkhallen.“
Nils Beckmann, ebenfalls schauspielernder Bruder von Till, sieht die Chance, die Literaturszene auf professionellere Füße zu stellen: „Ich habe die Hoffnung, dass durch die Struktur des Vereins die Ausbeutung der Eigeninitiative auf mehrere Schultern verteilt wird und die noch junge Idee eines städteverbindenen Ruhrgebietsliteraturvereins höhere Überlebenschancen hat. Das Ruhrgebiet ist ein Raum der es verdient, dass sich Literaten mit ihm auseinandersetzen und sich der Raum mit seinen Literaten!“ Als Schauspieler reizt es ihn, junge Literatur kennenzulernen und vorlesen zu können. „Dazu kommt der Austausch mit an Literatur interessierten Menschen und Veranstaltern. Der Verein ist ein guter Ort für ein Netzwerk von guten Orten für gute Texte.“
Die Vernetzung liegt auch Kathrin Butt am Herzen: „Ich hoffe, dass wir als Verein einfach mehr Möglichkeiten haben, Kooperationen einzugehen, Wettbewerbe auszurufen und tolle Veranstaltungen auf die Beine zu stellen. Ich möchte viele Leute an den Verein binden, damit die Arbeit neue Impulse bekommt und die Ruhrpoeten mehr als nur ein Verein unter vielen sind. Da ich mich auch für die bereits stattgefundenen Ruhrgebiets-Literaturwettbewerbe engagiert habe, ist es für mich selbstverständlich, dies auch im Verein zu tun.“ Ihren inhaltlichen Schwerpunkt legt Kathrin Butt auf die Finanzen, sie hat die wenig poetische Aufgabe der Kassiererin übernommen. „Aber ich kann mich auch gut um organisatorische Dinge kümmern und versuche immer, alle zusammenzuhalten“, ergänzt sie.
Derweil tingelt Till Beckmann mit Flyern und Plakaten durch das Revier, um Verein und Wettbewerb bekannter zu machen. „Ich knüpfe Kontakte für mögliche Veranstaltungen, treffe dabei immer wieder auf literaturbegeisterte Menschen. Mittlerweile halte ich die inhabergeführten Buchhandlungen für das kulturelle Rückgrat vieler Städte.“
Fransiger Teppich aus Bäumen und Beton
Aber gibt es das überhaupt, „das Revier“? Jeder der Ruhrpoeten hat auf diese Frage seine eigene Antwort, doch letztlich verspüren sie alle eine Zuneigung zu diesem schwer fassbaren Gebilde, das viel zu selten gemeinsam und selbstbewusst auftritt.
Rainer Holls Definition des Ruhrgebietes ist hier vielleicht die interessanteste: Er sieht darin einen „fransigen Teppich aus Bäumen und Beton mit zahllosen offenen Enden, die sich neu verknüpfen lassen“ und kritisiert das mangelnde Selbstbewusstsein der Ruhrgebietler, die sich leicht von Berlin beeindrucken lassen, für die kulturellen Nischen ihrer Heimat aber kein Auge haben. Eines der größten Probleme des Ruhrgebietes sieht er im ÖPNV, in dessen Struktur sich dieses gerne als Metropole beworbene Ballungsgebiet nicht widerspiegelt. Das vielerorts herrschende Kirchturmdenken glaubt er hingegen überwinden zu können, „indem wir uns auf das konzentrieren was im Zentrum unserer Arbeit steht – egal ob wir in Gelsenkirchen wohnen, in Dortmund oder in Rauxel. Es geht um Literatur, um verschiedene Stimmen, Perspektiven, Geschichten und Gesichter. Solange die Begeisterung dafür im Zentrum der gemeinsamen Arbeit steht, spielen Städtegrenzen und Verkehrsverbünde keine Rolle.“
„Ich glaube, das können nicht nur die Ruhrpoeten allein schaffen – und müssen es auch gar nicht“, stellt auch Kathrin Butt klar, „wir kooperieren mit vielen Institutionen, Buchhandlungen und Personen in allen möglichen Städten – und da stört es niemanden, dass wir unseren Sitz in Gelsenkirchen haben oder die letzte Veranstaltung in Bochum stattfand. Das gemeinsame Anliegen ist doch das, was uns vereint.“
„Vielleicht schaffen wir es ja irgendwann, dass uns nicht nur die Vergangenheit zusammenhält, sondern auch die Zukunft“, gibt sich Till Beckmann visionär. Ein erster Schritt ist jedenfalls getan: „Bei der Gründungs-Gala haben wir es immerhin geschafft, überzeugte Dortmunder ins tiefste Gelsenkirchen zu locken.“
Alle noch dicht?
Und so geht es voller Optimismus in den nächsten Wettbewerb. Mit dem Motto „Dicht!?“ setzen die Ruhrpoeten zugleich Fragezeichen wie Ausrufungszeichen. Ähnlich wie schon bei den 2012 ausgeschriebenen „Druckstellen“ ist die Auseinandersetzung mit dem Revier, seiner dichten Besiedelung und seinen „Undichtigkeiten“, seinen Brachen und Leerstellen und Bergschäden gewünscht. Es darf wieder gedichtet und gedacht werden – und nach Abschluss des Wettbewerbs dann wieder jede Menge gelesen. Aus Gladbeck kommen derweil gute Wünsche des Literaturbüros. Der Ruhrgebiets-Literaturwettbewerb wird also offensichtlich nicht als Konkurrenz für den Literaturpreis Ruhrgebiet empfunden, sondern als Bereicherung des literarischen Ruhrgebiets begrüßt. Schließlich finden sich unter den Förderpreisträgern auch stets Namen, die auch in den Inhaltsverzeichnissen der Ruhrpoeten-Anthologien zu lesen sind.
Infos: www.ruhrpoeten.org
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