„Und während wir unsere Touchscreens streicheln, verlernen wir, unsere Geliebten zu streicheln“, zitiert das Programmheft modebewusst Byung-Chul Han, auch dieses Jahr Kulturphilosoph der Saison. Hygienische Technik statt salziger Körper, ein neues, geiles Über-Ich, das uns befiehlt, zu genießen (Zizek) und Interpassivität (Pfaller). Was und wie wir heute begehren ist eine Gretchenfrage der Kulturtheorie, dazu noch eine drängende: Denn nie hatten Menschen in Industrieländern weniger Sex als heute. The Future of Sex, eine Inszenierung des Theater-Kollektivs Wunderbaum mit Autor und Kolumnist Arnon Grünberg, könnte eines der spannendsten Stücke der Ruhrtriennale, vielleicht des ganzen Theaterjahres sein. Weil es die richtigen Fragen stellt.
Flecken sind nicht mehr up to date
Los geht es (immer) mit Wahrheit oder Pflicht. Wahrheit: Maartje Remmers fragt Arnon Grünberg Löcher in den Bauch, über Scham und Sex, Ehe und Ekel. Grünberg: „Ich glaube, man muss an die Ehe glauben, um die Leute, die verheiratet sind, nicht zu beleidigen.“ Grünberg, der „Sexrabbi des Vaterlandes“ (so seine Kolumne für „De Volkskrant“), sitzt in einer weiß gepolsterten Kugel und schaut dem Treiben zu. Nacheinander treten die Protagonisten vor, bieten Einblick in ihr Lustleben.
Zuerst Sophie (Maartje Remmers), die lebende Kontaktanzeige, die nicht beantwortet wird. Dann Erika (Marleen Scholten), die die notgeilen Blicke der Männer nicht mehr erträgt und jetzt glücklich mit ihrem Libido-Terminator Henry (Walter Bart) ist. Einziges Manko des Sex-Roboters: die bedrohliche Dauer-Erektion lässt sich nicht wegprogrammieren. Dann sind wir schon beim Fetisch-Bänker Erik, dann im Kongo mit Sven und Emma beim Virtual Sex. Merke: Flecken sind nicht mehr up top date. Und neue Technologie ermöglicht neue Fantasien: Pre-Recordings verwirklichen nicht nur einen Dreier mit jüngeren Versionen des Partners, sondern auch direkt den Beischlaf mit sich selbst. Ist das noch Masturbation, oder schon Liebe?
Klar, dass Sven beim Sex-Rabbi Rat sucht. Zugegeben, nach einigen Wiederholungen wirkt dieses Prozedere unfreiwillig komisch: Die Verzweifelten flüchten zu Grünberg in die Kugel, wie zu einem allwissenden Dr. Sommer. Aber eine attraktive, blonde Frau, die ehrfurchtsvoll den Guru über seine Sex-Weisheiten ausfragt, ist nunmal eine reizende Fantasie, gerade für den Autor.
Aufwühlende Einblicke
Wunderbaum und Grünberg erzählen die einzelnen Passagen nie ganz aus, manchmal müssen sie das aber auch gar nicht, um wirklich etwas zu bewegen. Die Geschichte von Koen (Matijs Jansen) und Bobby steht für sich: Ein Pädophiler findet seine Erlösung in einem Roboterkind, geschaffen nur für einen Zweck. Der Moral ist Genüge getan, der Lust auch – trotzdem hagelt es Morddrohungen von Nachbarn.
Els (Marleen Scholten) trifft sich auf ein Tinderdate mit Rosa, aus dem Sex wird unschuldiges, kindisches Herumgeklatsche. Aber Els weiß auch nicht mehr was sie will, seit sie weiß, dass es mit ihrer offenen Beziehung keine Zukunft hat. Was nicht heißt, dass sie sie abbricht. Nein, sie tauscht ihr ganzes Sebstbewusstsein gegen Hoffnungslosigkeit, am Enden gegen Hass auf ihren Körper, ihre Gerüche. Alle Löcher zustopfen, sagt sie, mit Zement.
Bindungsängste
Die Zukunft der fröhlichen Fleischlichkeit, sie sieht offenbar nicht rosig aus: Offene Beziehungen für die Einsamen, Sex-Roboter für die Sehnsüchtigen. Oh Babylon, Mutter aller Huren, hilf!
Und The Future of Sex? Bleibt leider ein, wenn auch geiler, Quickie-Marathon. Um seine Protagonisten und ihre Geschichten bis in die verbotenen Winkel auszuforschen, sie zu schmecken, zu ertasten, dazu fehlte den Künstlern offenbar die Lust. Ist es vielleicht Bindungsangst? Denn manche LustheldInnen (Koen, Els) wären eine ernsthafte Beziehung wert gewesen.
Ruhrtriennale: The Future of Sex | R: Wunderbaum | Fr 2.9., Sa 3.9. 20 Uhr | PACT Zollverein, Essen | www.ruhrtriennale.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Nur keine Hemmungen
„Sexualkunde“ am 24.9. mit Johan Simons und „Teentalitaristen“ zum Abschluss der Ruhrtriennale – Spezial 09/16
Sturz und Flug
Wouter Van Looys Musiktheater-Kreation „Earth Diver“ bei der Ruhrtriennale – Bühne 09/16
Sozialhorror und Gentrifizierung
Bühnen-Vorschau: Schutt in der Rottstraße, Gentrifizierung im RiLo – Bühne 09/16
Moderne Klassiker und mystische Rituale
Bühnen-Vorschau: Leonce & Lena, Verbrechen & Strafe, Medea.Matrix
Die Weite der Kohlenstaubwüste
„Die Fremden“ auf Zeche Auguste Victoria in Marl bei der Ruhrtriennale – Bühne 09/16
Der Mensch ist des Menschen Feind
Alain Platels „Nicht schlafen“ in der Jahrhunderthalle Bochum bei der Ruhrtriennale – Tanz 09/16
Kollektive Selbstfindung in Bewegung
„Sketches/Notebook“ im PACT Zollverein bei der Ruhrtriennale
Cha Cha Cha mit Revolver und Bibel
VA Wölfl und die Festivals Ruhrtriennale & Favoriten 2016 – Tanz in NRW 09/16
Dialoge mit Metall
Symposium „Maschinenmensch und Menschmaschine“ am 20.8. bei der Ruhrtriennale – Spezial 08/16
Der Spielort als Magnet
Der zeitgenössische Musiktheater-Kultur-Event nach den Ferien samt theatralischer Politik: Die RuhrTriennale 2016 – Auftritt 08/16
„Eine Frau, die förmlich im Leid implodiert“
Regisseurin Elisabeth Stöppler über „Lady Macbeth von Mzensk“ in Düsseldorf – Interview 02/25
Nichts für Konfirmand:innen?
„Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ in Bochum – Prolog 02/25
„Die perfekte Festung ist das perfekte Gefängnis“
Ulrich Greb inszeniert Franz Kafkas „Der Bau“ am Schlosstheater Moers – Premiere 02/25
Wenn Hören zur Qual wird
„The Listeners“ in Essen – Prolog 01/25
Zwischen Realität und Irrsinn
„Kein Plan (Kafkas Handy)“ am Mülheimer Theater an der Ruhr – Prolog 01/25
Wenn KI choreografiert
„Human in the loop“ am Düsseldorfer Tanzhaus NRW – Tanz an der Ruhr 01/25
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Wenn die Worte fehlen
„Null Zucker“ am Theater Dortmund – Prolog 01/25
„Ich war begeistert von ihren Klangwelten“
Regisseurin Anna-Sophie Mahler über Missy Mazzolis „The Listeners“ in Essen – Premiere 01/25
Ein zeitloser Albtraum
Franz Kafkas „Der Prozess“ im Bochumer Prinz Regent Theater – Prolog 12/24
Die Grenzen der Bewegung
„Danses Vagabondes“ von Louise Lecavalier in Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/24
„Vergangenheit in die Zukunft übertragen“
Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe über „Give up die alten Geister“ in Bochum – Premiere 12/24
Freigelegte Urinstinkte
„Exposure“ auf PACT Zollverein in Essen – Prolog 11/24
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24