No-Go Area Landschaftspark Duisburg-Nord. Eine junge Frau, in der Hand einen Fächer, wartet am Bahnhof – wie schon gestern, wie vorgestern, wie jeden Tag, seit Jahren. Es ist Hanako, eine Geisha, die das Warten personalisiert und zum Gegenstand des Seins erkoren hat. Dafür wird sie zur Wahnsinnigen stilisiert. Das Musiktheater „Hanjo“ von Toshio Hosokawa in der Regie von Calixto Beito ist die letzte große Premiere bei der diesjährigen Ruhrtriennale. Kurz danach beginnen sechs Mönche aus Bhutan ein großes Sandmandala aus der Drugpa-Kagyü-Schule des bhutanischen Buddhismus. Die Ruhrtriennale geht bis Oktober, ein Grund mit, dass das Bochumer Theater erst im Oktober seinen Spielbetrieb aufnimmt, Mitte September wird auf dem Theatervorplatz erst einmal getrödelt, gehandelt, gefeilscht, eine Woche später lockt das Spielzeiteröffnungsfest.
Noch vor der rituellen Zerstörung des Burmesischen Mandalas bei der Ruhrtriennale wagen sich drei Ruhrgebiets-Theater mit klassischen Stücken an die dezimierte Zuschauerfront. Zum Beispiel mit Lessings Emilia Galotti (Theater Oberhausen) oder Ibsens Nora (Schauspiel Dortmund), das in der letzten Spielzeit bereits am Theater Oberhausen mit Erfolg (Berliner Theatertreffen) von Herbert Fritsch inszeniert wurde. Beide Frauen hinterlassen den Wahnsinn der Gefühle, die eine hat sich durch das Durchschneiden der Marionettenfäden befreit, die andere durch den Tod. Was uns das für die heutige Zeit sagen will, kann nur durch einen Theaterbesuch geklärt werden.
Den wahren Wahnsinn der nächsten Zeit aber liefert das Schlosstheater in Moers. Eintausend Buchseiten komprimiert in eine einzige Inszenierung und das auf der kleinen Bühne. Es geht um den „Zauberberg“ von Thomas Mann, der seit seiner Erscheinung 1924 ständig durch die Bestsellerlisten selbst ernannter Literaturkritiker geistert, schön verschwurbelt ist und zäh zu lesen, aber voller intellektueller Schattenkämpfe, auf dem Niveau der 1920er Jahre versteht sich. Eine eigene Theater-Fassung liefert Regisseurin Rabea Kiel für den Edelschinken in Moers gleich mit. Und so können die Besucher etwas erfahren von der unerfüllten Liebe Hans Castorps zu Madame Chauchat, die er während seines Aufenthalts im Lungensanatorium kennen lernt. Eigentlich will er dort nur seinen Vetter Joachim besuchen. Doch Castorp bleibt sieben Jahre, angezogen von der surrealen Atmosphäre und gefesselt von einem feuchten Punkt auf seiner Lunge, fasziniert von den philosophischen Schattenkämpfen zwischen Settembrini und Naphta.
Wie heißt es trocken in der Ankündigung: Im Zentrum von Thomas Manns Jahrhundertroman steht der Kampf um die „deutsche Seele“ – in Castorp spiegelt sich die Zerrissenheit Manns selbst, die Orientierungslosigkeit einer Generation zwischen Fin de siècle, erstem Weltkrieg, Weimarer Republik, Nationalsozialismus. Ein Mensch erforscht eine erlahmte Gesellschaft im Angesicht des Todes. Ist Entwicklung (noch) möglich? Das fragen sich die Menschen immer noch.
„Der Zauberberg“ nach einem Roman von Thomas Mann I R: Rabea Kiel I Schlosstheater Moers I Fr 9.9. 19:30 Uhr (P), So 11.9. 18 Uhr, Do 15.9. 19.30 Uhr, Fr 30.9. 19.30 Uhr I 02841 883 41 1
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