Tiefe Liebe steht für radikale Weltverbesserung – ein noch unbewiesener Tatbestand für ein friedliches Leben der Menschen auf diesem Planeten. Viele Religionen und spirituellen Lehren haben sich diese Vision auf die Fahnen geschrieben, verwirklicht hat sie noch niemand. Und so beginnt die RuhrTriennale-Inszenierung von „Leila und Madschnun“ in der Bochumer Jahrhunderthalle folgerichtig mitten in irgendeinem Krieg. Und die sehen im Kern alle gleich aus: Maschinengewehrfeuer prasselt, Handgranaten explodieren, ein Trupp Soldaten überrennt einen ausgebrannten Tankwagen, zieht sich blitzartig wieder zurück. Dann herrscht atemlose Stille. Ein paar Kämpfer sind liegengeblieben, werden geborgen, nur einer krümmt sich noch am Boden. Er heißt Salam (Aleksandar Radenkovic), was im arabischen Frieden bedeutet, er wird einer der Helden der Geschichte um absolute Liebe. Auch wenn Salam das Schlachtfeld am Schluss als brennendes Fanal verlässt, er hat da das höchste Ziel erreicht, die absolute Liebe, und damit auch die Erkenntnis der Abwesenheit jeglichen Leidens.
Ein kleines ausgefranstes Etwas hat ihn auf dem Weg dorthin geleitet, ein Büchlein, in dem das Epos „Leila und Madschnun" aus dem 12. Jahrhundert abgedruckt ist, die berühmteste Liebesgeschichte des islamischen Kulturkreises, geschrieben von Nezām ad-Dīn Abū Muhammad Elyās ibn Yusūf ibn Zakī ibn Mu'ayyid, einem der wichtigsten persischen Dichter. Die Geschichte der beiden unglücklich glücklich Liebenden kennt im Islam jedes Kind, und so wurde der Text zum Musiktheater-Intro für die zweite Intendanz von Willy Decker bei seiner Urmomente-RuhrTriennale. Dramatisiert wurde das Gedicht von Albert Ostermaier, vertont vom palästinensisch-israelischen Komponisten Samir Odeh-Tamimi. Es wurde eine tolle Inszenierung zwischen Theater, Musiktheater und Stahlstreben.
Es ist schon magisch, welch ästhetische Dimensionen ein Künstler in die Gaskraftzentrale eines ehemaligen Bochumer Stahlwerks stemmen kann, wenn genügend Finanzierungsmittel zur Verfügung stehen. Willy Decker lässt als Bühnenbild einen originalen Tankwagen an stählernden Marionettenfäden über 500 Tonnen Sand schweben, das Fahrzeug wirkt aus der Entfernung wie ein beweglicher Drache aus der Augsburger Puppenkiste. Erst wenn er aus großer Höhe in den mächtigen Sandhaufen fällt, merkt man für den Bruchteil einer Sekunde die Last, die da bewegt wird. Dennoch hält sich die Dramatik der Technik fein im Hintergrund, eher sandige Leere füllt den Blick, die beeindruckende Komposition Odeh-Tamimis das Ohr. Dirigent Peter Rundel zähmt das instrumentale Bestiarium, das mal von orientalischen Klängen strukturiert oder von Flöte und Akkordeon getragen wird. Auch wenn die Akustik der Industriehalle nicht die beste ist, betörend verrückt ist das Auftragswerk allemal geworden.
In diesem Chaos aus Tönen, Gefühlen und Blutverlust fiebert sich Salam in die Geschichte seines Herzens, er findet unter den Soldaten Madschnun, der als Knabe zwangsweise von seiner geliebten Leila getrennt wurde und darüber verrückt geworden ist, sich selbst beiseite gerückt hat an den Rand einer Gesellschaft, die den Wert der reinen Liebe vergessen hat, die ihn lieber mit Zwängen zähmen will, damit er wieder in ihrer Mitte weilen kann. Doch Madschnun (großartig gesungen vom jungen Countertenor Hagen Matzeit) lebt diesen Aussatz als positive Hinhabe an sein Ideal: Die Liebe, die kein Ich mehr braucht. Doch wo er leidet, will Salam handeln, findet Leila, die inzwischen mit einem anderen Mann verheiratet, Madschnun jedoch nie untreu wurde. Einmal sehen die beiden Liebenden sich noch auf dem Dach des schwebenden Tankwagens, doch sind beide unfähig zu körperlicher Nähe, Madschnun schreibt lieber Gedichte in den Wind, Gedichte über die Auflösung des Ich und Du. Salam tritt an seine Stelle. Nicht mehr Soldat will er sein, keinen Hass mehr kennen, brennend verlässt er still den Kriegsschauplatz – als ein Liebender.
Den stärksten Eindruck haben Hagen Matzeit und die singenden Kriegshorden (überzeugend: Chorwerk Ruhr) hinterlassen, die Willy Decker gekonnt in Massen über Lastwagen und Sandhügel hin- und herchoreografiert. Selbst das Premierenpublikum schien danach erschöpft. Der Abend war ein schwerer Brocken in einem japanischen Steingarten, dessen mühsam geharkte Sandmuster aus den Fugen geraten sind und der noch lange zur Meditation dienen wird.
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