Eigentlich wäre doch alles so einfach mit den Kleinen. Schon der olle Theodor Storm wusste: „Darum liebe ich die Kinder, weil sie die Welt und sich selbst noch im schönen Zauberspiegel ihrer Phantasie sehen.“ Doch irgendwie ist heute alles anders. Kinder werden zu Tode geliebt, misshandelt, für abartige Phantasien missbraucht. Es ist also nur folgerichtig, wenn sich zeitgenössisches Theater mit diesen Zuständen in unserer Gesellschaft beschäftigt. Auch bei den diesjährigen Stücken beim Mülheimer Theatertreffen, wo sich Autoren um den mit 15.000 Euro dotierten Dramatikerpreis bemühen, ist das zum Teil so.
Franz Xaver Kroetz' Stück „Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind“, das Anne Lenk im Münchener Residenztheater urinszenierte, hat seine Ursache im sogenannten „Fall Pascal“, ein 2001 verschwundener Junge, der in der „Tosa-Klause“, einer Kneipe in Saarbrücken, von Stammgästen regelmäßig sexuell missbraucht und schließlich ermordet worden sein soll. Bei Kroetz reden sich fünf Männer ihre Verbrechen schön, alle Angeklagten wurden 2007 freigesprochen, von Pascal fehlt immer noch jede Spur. Auch bei Katja Brunner geht es um Missbrauch, aber mit der Konstruktion auf die Opfersicht, die dabei auch die sprachlichen Zwänge entlarvt, in die sich die Gesellschaft manövriert hat. „Von den Beinen zu kurz“ spielt im Kosmos einer bürgerlichen Familie. Alles könnte gut sein, doch der Vater verfällt der Tochter. Dem therapeutischen Gerede zum Trotz, das später auf das Mädchen einprasselt, verteidigt die Tochter ihr verhängnisvolles Verhältnis zum Vater. Dadurch entstehen sich eigentlich widersprechende Bilder von Macht- und Ohnmachtsgebaren der beteiligten Personen.
Auch Elfriede Jelinek verquirlt in ihrem Material-Text „Faustin and out“ (das 16. für Mülheim nominierte Stück) publik gewordene Missbrauchs-Fälle. Ihre Faustschen „Gretinnen“ stampfen einen Moritatenrausch von Kampusch bis Fritzls Tochter auf die Minibühne, beschwören das österreichische Amstetten, wo der Keller zum Kerker, zum vierundzwanzigjährigen Höllenfeuer im wahrsten Sinne des Wortes wurde.
„Muttersprache Mameloschn“ von Marianna Salzmann erzählt die Geschichte dreier Frauen anhand der jüdischen Geschichte. Drei Generationen, deren Leben verwoben und doch so unterschiedlich bleibt. Die Großmutter überlebte das KZ, war in der DDR überzeugte Kommunistin, während ihre Tochter Clara weder am orthodoxen Judentum noch am grauen Sozialismusalltag interessiert ist. Ein Hoffnungsschimmer könnte Enkelin Rahel ein, die in New York nach ihrer sexuellen Identität sucht und dabei uralte Wurzeln entdeckt.
Nis-Momme Stockmann reibt sich gleich am Kapitalismus und den Ursachen seiner immanenten Menschenverachtung. Sein Protagonist, ein Ex-Banker, hat das System verlassen und steckt dennoch mittendrin. Das mehrere hundert Seiten-Epos „Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir“ hat Regisseur Lars-Ole Walburg in einem handlichen Fünfstunden-Abend untergebracht.
Festival „Stücke 2013“ I 11.-29.5. I Mülheim a. d. Ruhr I 0208 96 09 60
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