„Kein funk!“ rief die mame. „Was brauchst du a funk! Du brauchst a froj!“ – Gesagt, getan: Wie es sich für eine gute mame gehört und voll der Sorge um den Sohn Motti, der mit 27 Jahren immer noch keine eigene „mischpuche“ gegründet hat, organisiert Judith Wolkenbruch, sowohl in körperlicher als auch in emotionaler Hinsicht gigantisch, immer wieder Blind Dates mit verschiedenen Rachels, Saras oder Brachas. Diese erinnern den jungen orthodoxen Juden Motti jedoch lediglich an hässliche Prinzessinnen aus dem Mittelalter, deren Eltern nur auf einen blinden Prinzen hoffen können, um die Tochter endlich unter die Haube zu bringen.
Einigermaßen turbulent geht es in dem Debütroman "Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse" des Züricher Autors Thomas Meyer zu, der die Leser in eine Welt zwischen strenger Religiosität orthodoxer Juden in Zürich und weltlichen Versuchungen eintauchen lässt. Auf charmant-witzige Art und mit einem angenehmen Schweizer Akzent begeisterte Thomas Meyer die Gäste im Rahmen der Lesereihe „Macondo – Die Lust am Hören“. Diejenigen, die den Weg in die Rotunde nicht gefunden haben verpassten einen herrlichen Abend voller liebevoll skizzierter Figuren und spitzzüngiger Klischees aus einer wenig bekannten Welt. Da ist beispielsweise der tate, Mottis Vater, der in seinem Versicherungsbüro bezeichnenderweise zusammen mit Herrn Hagelschlag arbeitet. Oder Enzo, der Mitbewohner der schikse Laura, der sich als verdeckter Amor in der Pflicht sieht und Motti auf einer alkoholreichen WG-Party endlich in Lauras Arme befördert. Und da ist Mottis Oma, vor deren jüdischer Manipulationskunst selbst der Tod kapituliert… Was Motti von all dem hält? Nun ja, immer häufiger stellt er seine strenge jüdische Lebensweise in Frage und begehrt mehr und mehr gegen sein von der mame dominiertes und durchorganisiertes Leben auf. Doch ist die schikse Laura, die gewiss einen „hübschen tuches“ besitzt, diesen durch enge Hosen schmückt, Gin trinkt und sehr viel Spaß am Leben zu haben scheint, wirklich die Richtige für Motti? Sex ist schön, aber kann auch nicht darüber hinweg täuschen, dass wahre Liebe nun doch etwas vollkommen anderes ist. Jude hin oder her – auch Motti muss feststellen, dass das Leben außerhalb seiner jüdischen Welt nicht viel einfacher ist.
Thomas Meyer entstammt selbst einer liberal-jüdischen Familie. Seine Beobachtungen und die Tatsache, dass „Jude sein“ keine Einstellung, sondern vielmehr ein Lifestyle ist, brachten ihn auf die Idee dieses Romans, der sich übrigens auch sehr gut als Hörbuch eignen würde. Seien wir ehrlich: Ein live gesprochener Schweizer Akzent in Kombination mit dem im Buch verwendeten Jiddisch-Hochdeutsch geben Mottis Liebesabenteuern erst die richtige Würze.
Ein sympathischer Auftritt, der nicht nur Einblicke in das Leben orthodoxer Juden in Zürich gibt, sondern vermutlich auch den ein oder anderen Christen oder Atheisten an die eigene überfürsorgliche Mutter und vermeintlich familiäre Verpflichtungen erinnert haben dürfte. Thomas Meyer hat einen wunderbaren Roman geschrieben, der neben aller Leichtigkeit und sprachlicher Unbeschwertheit die Suche nach dem Selbst und dem eigenen Lebensweg thematisiert. Fans des Züricher Autors dürfen auch bereits auf das nächste Buchprojekt gespannt sein, das das Leben des Soldatenkaisers Friedrich Wilhelms I. unter die Lupe nehmen wird.
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