Außenseiter haben immer ein schwieriges Leben. Die Gesellschaft schiebt sie an den Rand, grenzt sich von ihnen ab, weil sie anders sind, nonkonform, latent gefährlich für Ordnung, Besitzstand und Ideologie. Das ist in der Jugendkultur schon einmal kultiviert worden, als die Hippies zu Werbeträgern ganzer Branchen konvertiert wurden. Selbst der Punk konnte am Ende assimiliert werden. Zuletzt geschah das wohl mit Breakdance, Rap, DJing und Graffiti, kein Wunder, dass sich dieses Lebensgefühl, das einst bei illegalen Straßenparties in New York begann, heute an den Theatern der Welt wiederfindet, obwohl sich die Sprüher noch eine kleine Existenz jenseits der Legalität erhalten haben. Auch in der ehemaligen Kulturhauptstadt Essen sind Spuren im öffentlichen Raum zu entdecken. Jetzt hat das Stadttheater sie entdeckt. Schauspieler, Tänzer, Rapper und Sprayer untersuchen in dem Hip Hop-Projekt „Critical Mess” das interessante Spannungsfeld zwischen Bürgerlichkeit und Protest. Gemeinsam mit den Initiatoren Samir Akika, Anna K. Becker und Sebastian Zarzutzki begeben sich auf die Suche nach ganz persönlichen Geschichten, die im März etwas vom Hip Hop und dem dazugehörigen Lebensgefühl der Straße, damals wie heute, erzählen können.
Fremde und Außenseiter am Rande der Gesellschaft sind auch José und Carmen in Georges Bizets berühmter, 1875 entstandenen Oper „Carmen“. Am Theater Oberhausen hat der musikalische Leiter Otto Beatus Bizets Melodien in eine neue musikalische Sprache übertragen und arrangiert sie als Songs für ein kleines Ensemble. Auch die vertraute Geschichte um die tödlich endende Liebe Don Josés zu der Femme Fatale Carmen wird zum einen zwar so erzählt, wie man sie kennt, doch zum anderen neu interpretiert: Wie in Prosper Mérimées Novelle, die der Oper zugrunde liegt, schlägt sich die Zigeunerin Carmen als Gelegenheitsprostituierte und Beischlafdiebin durch. José, der nicht in seine Heimat zurückkehren kann, da er dort im Zorn einen Mann getötet hat, verdingt sich als Hilfspolizist. Regisseur Joan Anton Rechi verlegt Carmen im März in einen vom Bühnenbildner Alfons Flores kreierten düsteren Kosmos schäbiger Spelunken, billiger Absteigen und bizarrer Variétés.
Noch zeitgenössischer geht es am Bochumer Theater zu. Hier wird in Dirk Lauckes neuem Stück ein Mensch namens Jochen Bowatski, der sich von allen gerne Jimi nennen lässt, weil alle Großen Jimi hießen, wie Hendrix, Dean und Morrison, aus dem Arbeitsleben in die gesellschaftliche Peripherie gedrängt, weil die Autozuliefer-Fabrik, in der er seit zwanzig Jahren arbeitet, nach Indien verfrachtet wird. Gemeinsam mit Kumpel Markus, dessen Ex mit seiner Tochter flugs dem Radius seiner ALG II-technischen Residenzpflicht entfliehen will, marschiert er ins Werk, um dem Chef die Rechnung zu präsentieren. Dort erwischen sie Markus‘ Ex mit dem schicken Luc (Lutz) im Bett, der Werksleiter wird tot aufgefunden. Im Chaos übernimmt Jimi Bowatski die Kontrolle, schickt die Inder nach Hause, das Werk wird besetzt, Outlaw Jimi ist ein Naturtalent an den Schalthebeln der Macht, die Aktion zur Sicherung deutscher Arbeitsplätze wird als Modellprojekt gepriesen.
Das sind in naher Zukunft drei Stücke im Ruhrgebiet, die gemeinsam Realität reflektieren.
„Critical Mess“: Uraufführung im Grillo-Theater Essen I 26.3. 19.30 Uhr
„Carmen“: Premiere in Oberhausen I 18.3., 17 Uhr
„Jim Bowatski hat kein Schamgefühl“: Uraufführung in den Bochumer Kammerspielen I 25.3., 19.30 Uhr
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20
Ein hochemotionaler Spiegel
Khaled Hasseinis „Drachenläufer“ in Castrop-Rauxel – Theater Ruhr 01/20
Donna Quichotta der Best Ager
„Linda“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 01/20
Spiegelei, Toast und Tier
„Das Reich der Tiere“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 12/19
Heute geht es auch ohne Brandbeschleuniger
„Biedermann und die Brandstifter“ in Essen – Theater Ruhr 11/19
Desinfiziert und doch tot
„Die Pest“ in Moers – Theater Ruhr 11/19
Wenn Datenberge erodiert sind
„Identität“ in Dortmund – Theater Ruhr 11/19
Biografisches Sightseeing
Babett Grube inszeniert „Alles ist wahr“ in Oberhausen – Theater Ruhr 11/19
Amouröse Programmierung
„Ein Sommernachtstraum“ am Theater Oberhausen – Theater Ruhr 07/19
Mit Drogen locker durchs Leben
Huxleys „Schöne neue Welt“ in Bochum – Theater Ruhr 07/19
Aufm Arbeitsamt wird gesabbert
„Willems wilde Welt“ von theater glassbooth – Theater Ruhr 07/19
Morden als Maloche
Harold Pinters „Der Stumme Diener“ in Essen – Theater Ruhr 06/19
Schaut wie die Kirschbäume fallen
„Der Kirschgarten“ in Essen – Theater Ruhr 06/19