Das Theaterfestival „FAVORITEN“ (ehemals Theaterzwang) ist das älteste seiner Art im deutschsprachigen Raum. Seit 30 Jahren haben ausgewählte KünstlerInnen der freien Theaterszene alle zwei Jahre die Möglichkeit, sich und ihre Arbeiten in Dortmund zu präsentieren – unter wechselnden Festival-Leitungen und damit innerhalb wechselnder Konzepte. Voraussetzung für eine Teilnahme am Festival für Theaterschaffende war immer, dass die Theaterarbeit in NRW produziert oder wenigstens hier ko-produziert wurde. So bietet das Programm auch in diesem Jahr einen guten Überblick über das, was sich im letzten Jahr in der freien Theaterszene NRWs abgespielt hat: Über 20 Inszenierungen, Performances und Installationen von alten Bekannten, wie etwa dem Bochumer „kainkollektiv“ oder „hofmann&lindholm", sowie neueren Entdeckungen wie der Gruppe „kgi“, die ihren furiosen Abend „transformers“ zeigen werden.
Was sich weiterhin offensichtlich wie ein roter Faden durch all die Festivaljahre zieht, ist der Versuch einer „Öffnung in die Stadt“, das Bemühen um ungewöhnliche Aufführungsorte und der Wunsch, nicht nur das übliche „freie Theaterszene-Publikum“ mit dem Programm anzusprechen – sondern auch andere Publikumsschichten zu erreichen. Holger Bergmann, Künstlerischer Leiter der „FAVORITEN 2016“ verfolgt gemeinsam mit seinem Dramaturgen Jörg Albrecht diesen Weg. Sie gehen dabei sogar noch einen Schritt weiter, worauf sie während des Spaziergangs, zu dem sie PresservertreterInnen einluden, einen deutlichen Fokus legen.
Sie nennen die „FAVORITEN“ nun „das beste Theaterfestival der Welt“ und übertiteln ihre Pressemitteilung mit „Blendwerke!“. Das Konzept entwickelt sich aus Fragen, die aus dem menschlichen urbanen Zusammenleben entstehen. Genauer gesagt: Die aus den unübersehbaren Gegensätzlichkeiten innerhalb der Stadt Dortmund entstehen. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die Trennung der Stadt in Nord und Süd durch die Bahntrasse und das damit verbundene soziale Gefälle. Das goldene schimmernde U gegenüber dem „Gasthaus“, wo Wohnungslosen Raum zum Verweilen angeboten wird.
Wie ist es möglich, diese Gegensätze während eines Festivals nicht zu reproduzieren, sondern produktiv zu nutzen? Wie wird Stadt hier gedacht? Wie wird hier ein jeweils unterschiedliches Image hergestellt? Wie können diese nicht nur dargestellt, sondern auch ihr Entstehungsprozess nachvollziehbar werden?
Bergmanns Antwort auf diese Fragen ist schlagend und ungewöhnlich. „Wir müssen uns ein Haus zusammenlügen“, sagt er, und einen ganzen Stadtteil als Festivalzentrum etablieren, nämlich das Unionsviertel entlang der Rheinischen Straße.
Einst eine Art Verlängerung der zentralen Dortmunder Einkaufsstraße, dem Hellweg, vereint das Unionsviertel heute einige der Gegensätzlichkeiten, an denen sich das Festival abarbeiten wird. Bei einem Spaziergang zeigen Bergmann, Albrecht und Habermehl eine kleine Auswahl der Orte, an denen vom 23. September bis 2. Oktober die ausgewählten Arbeiten gezeigt werden sollen. Zum Beispiel eine Schulaula, das Eugen-Krautscheid-Haus, das „Gast-Haus statt Bank“. Alle diese Orte erhalten ein neues Label: „Showspielhaus“, die „Avantgarderobe“, das „Rang-und Namenfoyer“.
Genauso wie aus einer eigentlich prekären Kunstszene im Ruhrgebiet mit Hilfe von geschicktem Marketing „Kreativwirtschaft“ wurde, werden diese Orte augenzwinkernd überschrieben, eingekleistert mit Titeln, die aus dem Theatervokabular entlehnt und ad absurdum geführt werden.
Denn die Orte bleiben, was sie sind, daran ändert kein Label etwas, jedenfalls nicht sofort. Die Gegensätze einer Stadt sollen im Festival nicht nur dargestellt und theatral aufgearbeitet, sondern die Öffnung in die Stadt ernst genommen werden. Bergmann und sein Team unternehmen ihren Versuch sehr konsequent: Vor dem U wird es für den Zeitraum des Festivals einen Autoscooter geben, ja, einen echten, der hoffentlich für ein bisschen Durchmischung des Publikums sorgen wird. Man wird sicherlich keine Wunder davon erwarten dürfen, aber so wie eine Autoscooterfahrt Turbulenzen in der Nackenwirbelsäule verursachen kann, könnte er auch für kleine Turbulenzen und unerwartete Begegnungen im Viertel sorgen, die so sonst nicht stattfinden.
Gegensätze sollen ausgehalten werden, wenn nach einer Aufführung nicht im hippen Theaterfoyer, sondern am Autoscooter diskutiert wird. Diese Lust am Aushalten macht Bergmann zum politischen Kern seiner „Blendwerke!“.
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