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Publikumsverhexung: Ursina Tossis Choreographie „Witches“
Foto: Sinje Hasheider

Die Hexenjäger aus der Zukunft

14. September 2020

Ursina Tossis Performance „Witches“ in Dortmund – Festival 09/20

Marxistische Theorien liefern nicht gerade eine einfache Vorlage für körperbetonte Choreographien. Zu abstrakt, zu ökonomisch erscheint das Unterfangen. Die politische Philosophin Silvia Federici griff in ihrem Buch „Caliban und die Hexe die „ursprüngliche Akkumulation“ auf, die laut Marx die Ära des Kapitalismus einleitete. Federici beleuchtet ein historisches Kapitel, das sich im diesem Umbruch ereignete und weit in der Vergangenheit zurückliegt: die Hexenverfolgung. Ausbeutung unbezahlter, sogenannter reproduktiver Arbeit sowie die Disziplinierung weiblicher Körper, so Federicis Argumentation, gehen auf ein System zurück, das noch heute als freie Marktwirtschaft beschworen wird.

Disziplinierung weiblicher Körper

Die Choreographin und Tänzerin Ursina Tossi hat auf der Grundlage dieses dicken Theorie-Werks eine Performance geschaffen, die (uraufgeführt auf Kampnagel in Hamburg) als Gastspiel beim diesjährigen Favoriten-Festival gezeigt wurde. Und diese Aufführung, wie sollte es bei Hexen anders sein, beginnt mit viel Spuk. Tossi versammelt sich mit ihren vier Mit-Performerinnen und fordert auf, die Augen zu schließen. Sie zählt bis zehn. Ihre Stimme führe in die Zukunft, deswegen lenkt sie alle Konzentration darauf. Fünf. Der Geruch von verbranntem Haar steigt in die Nase. Sieben. Rauchschwaden, staubtrockene Luft, versiegtes Wasser. Jetzt taucht das Ritual in die Zerstörungswucht ein, mit der der Kapitalismus in der Gegenwart wütet. Tossi spricht von der zunehmenden Normalisierung des Faschismus. Zehn. Wir sind in der Zukunft angekommen.

Und dann bricht Trauer aus. Ein Schluchzen, Krächzen und Schaudern durchzuckt die Körper. Bis es in ein befreiendes Schreien übergeht, als alle inmitten des Aschenhaufens stehen, der auf der Bühne zu einem Kreis zusammengefegt ist. Offenbar ein Symbol für die Scheiterhaufen, auf dem tausende Frauen verbrannt wurden. Die Beschwörung der Toten kann nicht mit der Vergangenheit abschließen, schließlich drohen die Hexenjäger, auch aus der Zukunft zu kommen.

Geruch von verbranntem Haar

Die studierte Philosophin Tossi rückt die Symbolfigur der Hexe in einen politischen Kontext. Aus Federicis Theorie destilliert sie einen ästhetischen Springpunkt: Lässt sich mit dem weiblichen Körper ein kollektiver Widerstand gegen eine Geschichte aus Gewalt und Ausbeutung behaupten? Federici analysierte die Disziplinierung und Zerstörung weiblicher Körper. Tossi seziert diese patriarchalen Unterwerfungsstrategien, die bis in die Gegenwart ragen. Die Vorwürfe, die an der Symbolfigur der Hexe kleben, werden in Bewegung gebracht. Es wird gemurmelt, gar gefaucht. Wollen sie uns verhexen? Zwischendurch gestikulieren sie auf der Bühne mit den Händen, als würden sie einen Fluch auf das Publikum schleudern.

Schließlich wird das Publikum mit Mythen konfrontiert, die ein Funktionieren des Kapitalismus garantieren. Erst der Fingerzeig an die Zuschauer:innen, dann die Frage: „Hast du eine Pflichtberatung gemacht?“ „Hast du dich an der Zerstörung der Kernfamilie beteiligt“? Gesten aus der Popindustrie werden zitiert, lasziv und obszön. Bevor ein fixierender Blick die nächste Frage einleitet: „Glaubst du an den Kapitalismus?“ Der angesprochene Besucher überlegt. Und passt: „Schwierige Frage!“

Nackt in der Asche

Eine knappe Stunde lässt Tossi diesen Hexenreigen beschwören, um eine Körpersprache zu erproben, die sich einer Disziplinierung und Funktionalisierung entzieht. Am Ende toben und wälzen sie sich nackt in der Asche. Bevor Ventilatoren einen Sturm des Scheiterhaufens entfachen, als löse dieser die unbeglichenen Schulden des Kapitalismus gegen die Inquisitoren der kommenden Kämpfe ein. Tossi und ihre Tänzerinnen stemmen sich mit ihrem feministischen Hexentanz gegen diese gefährlichen Geister.

Favoriten Festival | bis 20.9. | Dortmund, diverse Orte | www.favoriten-festival.de

 

Benjamin Trilling

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