Theater ist selbstreflexiv. Nicht nur, weil es auf den immer gleichen Stückefundus zugreift. Es vergewissert sich – in Anlehnung an andere Künste – auch immer wieder seiner Mittel, verstärkt seit den späten 80er Jahren. Zu diesen Mitteln gehört auch die Drehbühne, auf der in früheren Zeiten das Bühnenbild wie in Tortenstücken angeordnet war und sich vor dem Zuschauer als eigene Welt vorbeidrehte. Das war einmal. Das kainkollektiv hat jetzt eine solche Tortenwelt ins Bochumer Theater unten bauen lassen. Doch hier dreht sich nichts mehr. Der Planet ist stillgestellt, denn es geht um die Welt von Opel, dessen Werk in Bochum-Langendreer am 12. Dezember endgültig dicht macht.
Doch bevor das Publikum sich wie im Museum an den Nischen der Bühnentorte vorbeibewegt, geben die beiden Macher des kainkollektivs Mirjam Schmuck und Fabian Lettow einen sehr ironischen Einstieg in die Geschichte von Opel vom Kuhstall zum Großkonzern, der Nähmaschinen genauso wie Autos fertigte. Daraus wird eine „geopolitische Erzählung" mit Verweisen auf den Mutterkonzern General Motors, vagabundierendes Kapital und Parallelen zum Theater. In einer Projektion wuselt eine zeichnende Hand über die weißen Wände, wirft Hochhäuser, das Opelwerk, Arbeiter, Soldaten, Nähmaschinen in Windeseile aufs „Blatt". Man denkt an die „unsichtbare Hand" des Marktes von Adam Smith, doch hier ist es eher eine künstlerische Hand, die entwirft und korrigiert, allerdings auch Vorläufigkeit suggeriert und am Ende alles schwarz übermalt. Denn – ein (zitierender) Verweis auf den Film „Ein Werk verschwindet" von Hofmann&Lindholm – das Opelwerk hat sich angeblich in Luft aufgelöst.
Danach werden die Zuschauer auf Erkundungstour um die Nischen und Kojen geschickt. Da sitzt der frühere Opelaner Gisbert Rüther in einem biederen Wohnzimmer und erzählt von seiner Arbeit; Hilmar Born gibt einen Einblick in das von ihm gegründete Opel-Museum in Herne; die Theaterwissenschaftsstudentin Jennifer Müller, Tochter eines Opelaners, setzt sich mit dem Begriff „Arbeiterkind" auseinander; die erst 12-jährige Amelie Matern stellt den Besuchern Fragen nach ihrer lückenlosen Biografie oder einer Umschulung. Das kainkollektiv entwirft das Bild einer Existenz im Bann von Opel. Wie in allen Städten, die von einer wirtschaftlichen Monostruktur geprägt sind, ist der Grad der Identifikation beträchtlich, der Einfluss bis in die feinsten Verästelungen des Lebens so berührend wie erschütternd. Die Welt ist alles, was Opel ist – auch wenn man es so kaum glauben mag. Die Authentizität der Bekenntnisse in einem ethnographisch-musealen Kontext stellt Nähe, vor allem aber Distanz her, die noch verstärkt wird durch die ironische Rahmenerzählung. Man hat es mit leibhaftigen Relikten der Industriegeschichte zu tun, die demnächst nicht mehr die Kinder, sondern die Waisen von Opel sein werden – darin steckt eine Wahrheit, aber auch der maliziöse Kommentar dieser durchaus gelungenen Produktion.
„Die Kinder von Opel" | R: kainkollektiv | 5.11., 6.11. je 19 Uhr, 5.12., 6.12. je 18 Uhr | Schauspielhaus Bochum | 0234 33 33 55 55
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