Manchmal ist der Krieg noch unerbittlicher als das Grauen der Welt. Die ungarische Schriftstellerin Ágota Kristóf hat einen Roman darüber geschrieben. Über zwei neun Jahre alte Zwillinge, die im Zweiten Weltkrieg zu ihrer verarmten Großmutters aufs Land evakuiert werden. Sie gilt als Hexe, soll ihren Mann umgebracht haben und denkt nicht daran für die Erziehung zu sorgen. Das übernehmen die Jungen selbst und geraten dabei von einer Grausamkeit in die nächste, von sexuellen Nötigungen nicht verschont. Aber sie lernen zu überleben. In einer zerrütteten Welt voller Opportunismus ringen die namenlosen Zwillingsbrüder, selbst seltsame und dysfunktionale Außenseiter der Gesellschaft, um moralische Integrität, die sie sich durch einen strikten Verhaltenskodex auferlegen – selbst gegen die eigenen Eltern. Unter der Regie von Tim Etchells liefert die wagemutige, reduzierte Sprache von „The Notebook“ – vieles ist in kurzen, tagebuchartigen Sätzen formuliert – den Ausgangspunkt für eine mitreißende Performance zwischen düsterem Weltkriegselend und subversivem Humor, in der die beiden Protagonisten Robin Arthur und Richard Lowdon die Geschichte erzählen: Eine unheimliche Paarung zweier Figuren gefangen in einer Stimme und im System des Überlebens. Dass dabei auch schleichend die Menschlichkeit auf der Strecke bleibt, macht diesen Roman über eine Zeit, in der sich selbst die Hoffnung längst davongestohlen hat, zeitlos und ziemlich schwer zu ertragen.
Forced Entertainment, 1984 in Sheffield gegründet, steht für unverwechselbares, spielerisches und zugleich hoch reflektiertes Theater. Unter der Leitung von Tim Etchells realisiert die Kompanie, die aus einem Kern-Ensemble von sechs KünstlerInnen besteht, seit zwei Jahrzehnten Arbeiten in den Bereichen Theater, Performance, Installation, digitale Medien und Film. Das Hauptinteresse der weltweit bekannten und impulsgebenden Vorreiter des europäischen Experimentaltheaters gilt dabei dem urbanen Leben, der Frage nach Identität, dem Verhältnis von erlebten Erfahrungen und medialen Bilderwelten sowie den Konventionen von Sprache.
„The Notebook“ | Fr 9.5., Sa 10.5. 20 Uhr | PACT Zollverein Essen | 0201 8 12 22 00
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