Nerds sind in der Regel durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Zwischen ironischer Intellektualität und jungenhafter Infantilität ist kein Platz für Verstörung. So hat sich auch das Ich in Thees Ullmanns „Sophia, der Tod und ich“ in einer Welt der Unberührbarkeit eingerichtet. Nur die täglichen Postkarten an den Sohn, den der Held seit seiner Geburt nicht mehr gesehen hat, bilden die Achillesferse. Bis – ja, bis der Tod klingelt. Stefan Diekmann als namenloses Ich in Jeans, T-Shirt, Hoodie und Nerdbrille ist ziemlich aus der Spur, als der soignierte Herr im schwarzen Dreiteiler vor ihm steht. Und wie sich das für den Knochenmann gehört, gibt er dem Opfer drei Minuten Zeit für das, was man halt so macht: letzte Wünsche, Rückblick aufs Leben, Zähne klappern, um Aufschub flehen etc.
Autor Thees Ullmann ist zunächst als Frontmann der Band Tomte bekannt geworden und hat danach an seiner Solokarriere gebastelt. Geschrieben hat er immer schon, für Zeitungen und Magazine, 2015 erschien sein erster Roman „Sophia, der Tod und ich“, der in die Spiegel-Bestsellerliste rauschte. Der Plot entwickelt sich nach dem kuriosen Auftakt zum Roadmovie. Nachdem der Freund Hein zweimal geklingelt hat, kommt auch noch Exfreundin Sophia dazu. Der Knochenmann in Gestalt von Jens Winterstein ist ein strenger Beamter des Lebensendes, der allerdings nicht auf den Mund gefallen ist. Er kennt die Tricks seiner Kunden, selbst der Tod ist Teil der Dienstleistungsgesellschaft, und retourniert souverän. Der Nerd und der Staatsdiener des Hinscheidens – das sorgt für funkelnde Rededuelle. Doch schon mit Sophias (Stephanie Schönfeld) Auftauchen verliert der Abend erheblich an Drive und Dichte. Das Trio turnt etwas hilflos zwischen den kleinen und großen Postkarten des Bühnenbilds (Ausstattung: Henrike Engel) herum, malt Biergläser, Linien und Pünktchen auf die weißen Flächen. Pointen wechselnd mit Durchhängern.
Die Inszenierung von Tilman Gersch am Schauspiel Essen changiert zwischen drei konträren Zuständen: Ironie, Groteske und Sentimentalität. Zwischentöne gibt es nicht. Grotesk wird es spätestens, als der Tod merkt, dass die normale letale Verwaltungsroutine ins Stolpern gerät. Stau im Kundenbüro? Verwaltungsreform im Hades? Wechsel im Aufsichtsrat der Schnitter? Ein zweiter, hochblondierte Tod (Jan Pröhl) mischt sich ein ins offensichtlich umkämpfte Todesgeschäft und fordert den Kollegen zum Titatenkampf heraus. Damit beginnt der Wettlauf um den kleinen Sohn des Helden, aber auch die Kitsch und Sentimentalitäts-Dröhnung der Inszenierung. Schon mit der eingesammelten Mutter des Helden (Ingrid Domann mit bestimmter Betulichkeit), spätestens aber mit dem Auftritt des Sohnes des Erzählers (Aron Gergely) wird die Schleimspur der Rührseligkeit immer breiter. Der Sirup des Gefühlsdusels nimmt trotz ironischem Antidot hollywoodeske Züge an, als sich Tod 1 und Tod 2 zum Showdown treffen. Am Ende hat man 100 Minuten seelisch ballaststofffreie Unterhaltung genossen, braucht aber dringend eine Sentimentalitäts-Entschlackungskur.
„Sophia, der Tod und ich“ | R: Tilman Gersch | 21.4., 4.5., 14.5., 20.5. 19.30 Uhr | Schauspiel Essen | 0201 812 22 00
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