Die Frage des Abends stellt sich bereits vor dem Theatereingang, als ein Mann mit langem Bart und ungepflegten Haaren einen Pappbecher hinhält: „Haben Sie ein wenig Kleingeld“? Es klingt nach Not, es sieht nach Elend aus, kurz, was soll man schon anderes tun, als eine Kleinigkeit zu spenden? Doch die Premiere im Essener Schauspiel läuft nur wenige Minuten, da steht dieser Mann auf der Bühne. Er hält dem Publikum seinen Becher unter die Nase und erzählt, dass seine Schwester im Krankenhaus sei und er Geld für die Fahrt brauche. Klar, wer hat da kein Mitleid?
Doch alles nur gespielt, denn dieser Peter gehört zu den fünf Figuren, die der schwedische Gegenwartsautor Jonas Hassen Khemiri in seinem Erfolgsstück „≈ [ungefähr gleich]“ aufeinandertreffen lässt, bis sich diese Figurenkonstellation zu einem Kaleidoskop der neoliberalen Leistungsgesellschaft verwebt. Denn hier träumen alle. Entweder vom Aufstieg oder gleich vom Ausstieg aus dem System.
Dass sich dieses Entrinnen als reine Illusion entpuppen wird, bezeugt bereits die graue Häuserfassade, vor der Regisseurin Magz Barrawasser die DarstellerInnen auftreten lässt. Das Publikum starrt auf eine triste Gebäudewand, wie sie wohl in jeder Großstadt anzutreffen ist: Aus manchen Fenstern strahlt Licht, an anderen sind die Rollos heruntergefahren. Davor steht ein Baugerüst, das bis zur Decke reicht (Bühne: Friederike Külpmann). Um die symbolische Botschaft dieser Kulisse mitzutransportieren, klettern die Akteure auf und ab. Dabei herrscht die Angst vor dem existenziellen Schwindel und dem bodenlosen Fall, wie ein Textloop immer wieder nahelegt.
Khemiris kapitalismuskritische Vorlage entbehrt nicht der Komik und wurde noch in der deutschsprachigen Erstaufführung vor drei Jahren im Hamburger Thalia-Theater als Kosmos dargestellt, der von Stereotypen der freien Marktwirtschaft bevölkert wird. Doch als Karikaturen präsentiert Barrawasser diese Charakter nur soweit, wie Leistungssubjekte in der neoliberalen Selbstvermarktungsgesellschaft bereits vorgezeichnet sind. Fast gemäß dem berühmten Marx'schen Zitat, das im Programmheft abgedruckt ist: „Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!“ So treten sie als Handy auf oder stolzieren als übergroßes Bewerbungsportfolio über die Bühne.
Zahlen und Investitionsspekulationen regieren die Gedanken, eine Welt aus Ich-AGs, dessen Träume platzen. Deswegen spielen sie in dieser rauen Welt das, was ihnen von Obrigkeiten und Chefs vorgespielt wird: Sie treten nach unten. Der Obdachlose Peter (Alexey Ekimov) wird zur Klammer, die alle anderen Figuren zusammenhält: Andrej (Stefan Migge) hat in einem Abendschul-Kurs die „Grundlagen von Wirtschaft und Marketing“ gepaukt. Mit seinen erworbenen Skills bewirbt er sich beim Jobcenter für einen höheren Posten und erhält eine Abfuhr. Seinen Frust lässt er an Peter aus, was auf der Bühne nur angedeutet wird, mit Kunstblut auf einem Taschentuch. Freja (Melanie Lüninghöner) schwelgt dagegen in Mordphantasien, um ihren alten Job in einem Kiosk zurückzugewinnen. Dort arbeitet auch Martina (Henriette Hölzel), obwohl sie von einem Aussteigerleben auf einem Bio-Bauernhof träumt. Stattdessen plagt sich die Mutter eines Kindes mit Geldsorgen, denn ihr Freund Manni (Philipp Noack) bangt um eine Festanstellung an der Uni. Doch die bleibt dem Wirtschaftshistoriker verwehrt. Dabei wollte er mit einem längst vergessenen Theorem des Kakaoherstellers van Houten groß rauskommen. Mit einer Formel rechnet er die Investition für einen erwarteten Unterhaltungswert vor. Alles, auch die Kunst, unterliegt einer Verwertungslogik. Das ist eine Erkenntnis des Abends.
Ausgerechnet am unterlegenen Peter demonstriert Manni das. Er gibt dem Obdachlosen Kleingeld. Erst für einen Witz, später für eine emotionale Gesangseinlage. Wert – Gegenleistung, so das Prinzip. Und Peter leistet diesen Gegenwert, er performt. Das ist vielleicht die viel bittere Erkenntnis an diesem Abend: Selbst dieser Ausgestoßene der Gesellschaft betreibt Selbstvermarktung, um zu überleben.
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