Eine leere Bühne. Kein Vorhang. Lampe rein, Lampe raus. Stühle wandern, Tische. Ab wann ist ein Wohnzimmer ein Wohnzimmer. Verlassen die Ratten das sinkende Schiff? Der Fels in der Brandung: Bernd Rademacher als der Vater. Seine Wahrnehmung schlittert ein wenig. Seine Uhr ist ständig weg. Seine Tochter Anne schleppt immer Frauen an, die helfen wollen. Wem? Und warum in seiner Wohnung? Die achtköpfige Schlepperbande legt wieder los. Die Szenerie bleibt irgendwie immer gleich und doch ein klitzekleines bisschen anders. André sucht wieder seine Uhr, das Problem erkennt er nicht mehr. Sein Gedächtnis schwindet, sein Bewusstsein bleibt und damit auch das Wissen um die Nichtbeherrschung des Raums an sich, zumindest für ein paar Minuten. Noch.
Der französische Dramatiker Florian Zeller schrieb die Demenz-Farce „Vater“ 2012, die deutschsprachige Erstaufführung fand erst im letzten Jahr statt. Alexander Riemenschneiders Inszenierung in den Bochumer Kammerspielen benötigt zwei Stunden, um den gerade noch lebenslustigen Tüddel in ein sabberndes Kleinkind mit Hang zum Schlaflied zu verwandeln. Eigentlich sind es zehn lange Jahre, obwohl die Entwicklung sich oft potenziert.
Aber auch die Situation der Angehörigen wird gezeigt. Alle Mühe, aller Aufwand, die Besorgnis, alles scheint immer umsonst zu sein, weil der Bemutterte dies gar nicht als Eingriff in sein Leben wahrnimmt. Bernd Rademacher kämpft lange gegen die Windmühlenflügel, und Riemenschneider lässt ihn. Immer wieder tauchen Menschen auf, Trugbilder oder Realitäten, sie reden mit ihm, sie bedrohen den Kranken, der sich einbildet es nie gewesen zu sein: „Die Erde dreht sich weiter“, sagt André, doch was kann er tun, wenn sie sich rückwärts dreht? Wo denn seine Tochter Elise sei, „die mag ich doch viel lieber“. Nichts hat in der Familie mehr Bestand. Dennoch kämpft Xenia Snagowski als aufopferungsvolle Tochter Anne um jeden Tag. Sie sucht Betreuung, sie muss arbeiten. Irgendwann ist der Kampf verloren. Ein Mensch löst sich auf. Letzte Ausfahrt Heimbetreuung. Und das ist nicht das Schlechteste.
„Vater“ | R: Alexander Riemenschneider | Sa 5.3. 20 Uhr, Sa 19.3., Sa 2.4. 19.30 Uhr, So 27.3. 19 Uhr | Kammerspiele Bochum | 0234 33 33 55 55
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