Der Titel „Das Leben der Mächtigen“ klingt pathetisch. Das weckt Assoziationen von überlebensgroßen Herrschern, Despoten in Antike, Mittelalter und Neuzeit. Der Mensch ist in dem Buch der Architektin und freien Autorin Zora del Buono aber nur eine Randnotiz. Denn sie hat, so verrät der Untertitel, „Reisen zu alten Bäumen“ in Europa und den USA unternommen. Darunter sind die ältesten, höchsten, dicksten Exemplare. Manche sagenumwogen und berühmt, andere zu ihrem eigenen Schutz anonym und ungekennzeichnet, in tiefen Wäldern vor den neugierigen Augen, Bohrern und Sägen übereifriger Baumjäger und Wissenschaftler versteckt.
Vierzehn besondere Bäume hat die Autorin im Verlauf eines Jahres unter teils schwierigen Bedingungen ge- und besucht, sie tragen Namen wie „Lady Liberty“, „Old Tjikko“ oder „Dicke Marie“, jedem widmet sie ein eigenes Kapitel. Ihre Faszination für die Samenpflanze überträgt sich bei der Lektüre schnell, beispielsweise in der Geschichte des mit 390 Jahren noch jungen Bonsais mit Namen „Hiroshima Survivor“: Seit sechs Generationen in Familienbesitz, überlebt er den Bombenabwurf 1945 drei Kilometer vom Explosionszentrum entfernt und landet in den 1970ern als Geschenk an den Präsidenten im Washingtoner Arboretum.
Die meisten Exemplare sind aber weniger mobil. Seit mehr als 5000 Jahren trotzt eine langlebige Kiefer in den Kalifornischen White Mountains widrigstem Wetter, seit gar 9550 Jahren hält sich eine unscheinbare Fichte in einem schwedischen Nationalpark. Der Riesenmammutbaum „General Sherman Tree“ wiederum ist zwar „nur“ 2200 Jahre alt, aber mit über 80 Metern so hoch, dass in seiner Krone ein eigener Mikrokosmos lebt, für dessen Bewohner der Baum ein ganzes Universum ist.
Auch wenn die Lebensspanne des Homo Sapiens im Durchschnitt dem einer Birke entspricht – eine der kurzlebigsten Baumarten – können auch einzelne Menschen binnen weniger Momente das Schicksal eines jahrtausendealten Baumes besiegeln. Das beweist das Abfackeln einer 3570 Jahre alten Sumpfzypresse in Florida. Für die AnwohnerInnen ist das übrigens ein klarer Fall von Mord.
Wieder andere Exemplare haben trotz der Nähe zum Menschen Jahrtausende überdauert und wurden stumme Zeugen menschlicher Historie. Einige sind Legenden, wie die „Kastanie der hundert Pferde“, unter der eine sizilianische Königin es mit 100 Kavalleristen getrieben haben soll. Andere sind Orte menschlicher Tragödien. Zu den Füßen der Lebenseiche in Virginia wurden im 17. Jahrhundert Sklaven ermordet, eine Sommerlinde im Hessischen Schenklengsfeld ist eng mit der Geschichte der Juden und Jüdinnen des Dorfes zur Zeit des Nationalsozialismus verbunden.
Del Buono recherchiert akribisch, wenn auch ohne geschichtswissenschaftlichen Anspruch die historischen Ereignisse und kulturell geprägten Mythen, die in Verbindung mit den Bäumen stehen. Sie lässt Anekdoten und skurrile Persönlichkeiten einfließen, die sie im Verlauf ihrer Reise getroffen hat. Botanische Fakten und neue Erkenntnisse in der Baumkunde flicht sie geschickt in ein. Dazu gesellen sich ein ästhetisches und ein emotionales Interesse, für die LeserInnen in poetisch-haptischen Beschreibungen und fotografischen Porträts der Bäume festgehalten. Jedem einzelnen Baum nähert sie sich so buchstäblich und im übertragenen Sinn mit Respekt und manchmal auch mit Staunen.
Wer jetzt schon Alexandras Schlager „Mein Freund der Baum“ trapsen hört, kann unbesorgt sein. Mit esoterischem Baum-Umarmen hat das nichts zu tun. Del Buono vermittelt Ehrfurcht vor der Natur und diesen besonders langlebigen Wesen. „Das Leben der Mächtigen“, mit denen eben nicht die Menschen gemeint sind, erzählt von Lebensformen, die schon vor der Menschheit die Erde bevölkerten und vermutlich noch existieren werden, wenn wir längst wieder von der Bildfläche verschwunden sind. Und wäre das wirklich so schlimm? Denn viele Bäume, wenig Menschen – das macht den Wald so schön.
Zora del Buono: Das Leben der Mächtigen. Reisen zu alten Bäumen | Matthes & Seitz Berlin | 147 S. | 32 €
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