Das Leben an der Ruhr ist oft kein Zuckerschlecken, der Besuch eines der Reviertheater auch nicht. Da kann der Theatergänger schon einmal einen Knacks kriegen. Preis und Leistung liegen nicht in derselben Emscheraue, Kunst und Ökonomie ebenso wenig. Bilden wir also Rhizome, erliegen wir der Logik der Sensation, beides Begriffe des französischen Philosophen Gilles Deleuze (1925-1995), der oft und gern die Kunst und ihre Tentakeln analysierte. Auch in „Der Knacks“ am Schlosstheater Moers sind seine Texte in ein theatrales und musikalisches Projekt über die Goldene Zeit des Jazz Age, die Weltwirtschaftskrise 1929, die derzeit immer wieder als Erklärungsmodell für die Finanzkrise der Gegenwart herangezogen wird, verwoben. Im Scheinwerferlicht stehen dabei die Risse, die eine solche Krise in den Subjekten hinterlässt. Das kainkollektiv aus dem Ruhrgebiet zeigt im Juni in der Kapelle Bilder, Sounds und Sätze, schillernde Bruchstücke in einem Theater des Knackses.
Nach dem Knacks folgt die Leere. Leere Räume, in die fast ausschließlich mediale Bilder und Verkehrsflüsse noch Orientierung liefern. Sie sind die letzten Haltegriffe in einer Gesellschaft im Strudel. Immer weniger Menschen können deshalb ihre Heimat kaum noch räumlich verorten. Heimatgefühl entsteht heute kaum noch durch private Gemeinschaft, eher durch öffentliche Rituale. Das größte Gemeinschaftserlebnis im Ruhrgebiet bleibt dabei der Fußball. Aber: In diese Fußball-Gemeinschaft passt nicht jeder hinein: Ursprünglich eine rein heterosexuell-männliche Veranstaltung, öffnet sich dieser Sport zwar zunehmend auch anderen Bevölkerungsgruppen. Mädchenfußballschulen und die Frauenfußball- WM 2011 sind Beispiele dafür. Und auch der weibliche Fan beschränkt sich längst nicht mehr darauf, zur Live-Übertragung die Schnittchen im heimischen Wohnzimmer zu servieren. Aber wie steht es mit Fußball und Homosexualität? Was hat der Volkssport Nummer eins mit Sex und Gender zu tun? “Balls” ist ein Essener Projekt über das so häufig beschworene Gemeinschaftserlebnis, die Integrationskraft, den organisierten Zusammenhalt, und die identitätsstiftende Bedeutung, aber auch das Ausschließende des Fußballs. Gemeinsam mit Spielern und Fans aus dem Ruhrgebiet entdeckt Marc-Oliver Krampe für das Schauspiel Essen den Fußball als nicht ganz unkomplizierte Heimat und stellt die Frage, wie dieses faszinierende Spiel, das zugleich verbindet und ausgrenzt, uns allen im Ruhrgebiet ein Heimatgefühl geben kann.
Gibt es also eine Lösung zwischen Knacks und Heimat, zwischen Gilles Deleuze und Stan Libuda? Einfach abschalten, nichts mehr tun. Zen im Stadion, statt Pappbecherwurfgeschosse? Oder doch lieber das Leben digital leben wie der Dude (Jeff Bridges) in Tron? Die Jugend hat vielleicht Antworten, zu sehen im Dortmunder Kinder- und Jugendtheater. Hikikomori ist der japanische Fachausdruck für die freiwillige Isolation von Menschen, eine Abkapselung gegenüber der Außenwelt, eine Art Gesellschaftsverweigerung. Kommunikation findet nur noch auf virtuellen Wegen statt, Internet-Chats ersetzen Gespräche mit leibhaftigen Menschen. In Holger Schobers Stück „Hikikomori“ hat H diese Isolation für sich gewählt. Er entzieht sich den Leistungsansprüchen und Erwartungen der Gesellschaft. Sein Gegenentwurf lautet Passivität und stummer Protest. Er schwankt zwischen Apathie, Selbstironie und fast schon philosophischen Eingebungen. Und da könnte man schon wieder beim mehrfach zitierten französischen Medienphilosophen sein.
„Der Knacks“ nach F. Scott und Zelda Fitzgerald und Gilles Deleuze | Schlosstheater Moers (Kapelle) | Fr 27.5. 19.30 (P), So 29.5. 18.00, Mi 1.6. 19:30, Mi 8.6. 19.30 Uhr | 02841 883 41 00
“Balls” nach Marc-Oliver Krampe | R: Marc-Oliver Krampe | Schauspiel Essen (Casa) | Sa 18.6. (P), Mi 22.6., Di 28.6., je 19 Uhr | 0201 812 22 01
„Hikikomori“ | R: Mark Oliver Bögel | Kinder & Jugendtheater Dortmund (Sckelly) | So 5.6. (P) 19 Uhr, So 19.6. 18 Uhr, Mo 20.6. 11 Uhr | 0231 502 72 22
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