Der Po als Perkussion-Instrument, virtuelle Wollfäden und untote Amseln – auch bei der 17. Ausgabe des MuVi-Preises im Rahmen der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen wurde die emotionale Reaktionspalette des Publikums geschickt bespielt. In der fast ausverkauften Lichtburg wurde am 2.5. gestaunt, gestutzt und gelacht.
Die MuVi-Sektion dient aber nicht nur dem flüchtigen Genuss von Musikvideos auf großer Leinwand, wie Kuratorin Jessica Manstetten eingangs erklärte. Die Arbeiten werden außerdem für den eigenen Verleih angekauft und sind so auch auf anderen Festivals oder Veranstaltungen zu sehen, zum Beispiel in einer Kooperation mit dem Goethe-Institut. „Wir retten die Popkultur“ bemerkte Manstetten augenzwinkernd und führte mit Hans-Christian Grimm, ebenfalls Kurator der Sektion, wie gewohnt souverän und locker durch den Abend.
Erstmals waren Mitwirkende zu jedem der aus 204 Einreichungen ausgewählten Clips vor Ort, um ihre Musikvideos persönlich vorzustellen. Wie ein besonders charmanter Wasserfall plauderte DJ und Produzent Eric D. Clark über die Entstehung des Mouse on Mars-Clips „Lost and Found“ und die Zusammenarbeit mit Regisseur Klaus Lemke, für den er bei der späteren Preisvergabe auch den mit 2.000 Euro dotierten, 1. Preis der Jury entgegennehmen konnte.
Audiovisuell stimmte Vika Kirchbauers Clip zu Mauds „Convenient, Sacred, Blessed“, der nackte Haut als hypnotisch waberndes Perkussionsinstrument gebraucht, gut ein. Das anschließende Video zu Deichkinds „Denken sie groß“ zeigte die Band in einer megalomanischen Montage, die wie ein virtueller Fiebertraum Salvador Dalís wirkt. Eingebettet sind die in den Himmel wachsenden MCs in ein Online-Tutorial zur Erstellung eines preisgekrönten Musikvideos. Passend dazu erhielten Deichkinds Stammregisseure Till Nowak, Timon Schierhorst und UWE dafür den Publikumspreis, über den vorab online vom 1.4.-1.5. abgestimmt werden konnte.
Beim physisch präsenten Publikum in der Lichtburg kam vor allem Johannes Bruggers Clip zu „Down“ von Occupanther gut an. Mit dem real existierenden Alleinunterhalter „Tastenquäler“ und einer Frau im typischen „Schwiegertochter gesucht“-Look treffen zwei einsame Herzen im Widerschein von Diskokugel und Flitterregen aufeinander. Unter der Regie von Brugger und vor der Kamera von Lorenz Weißfuß werden die schrägen Akteure aber nicht lächerlich gemacht, ihnen wird Raum für den großen Auftritt auf kleiner Bühne gegönnt.
Kritisch hinterfragt werden kann der Clip der sympathischen Deutsch-Iranerin Tara Afsah. Eigentlich als Studienarbeit kreiert, bekam DJ Koze ihr Video zu „Magical Boy“ zufällig zu sehen und war sofort begeistert. Es geht um Schwärmerei, eine frische Liebe und pure Lebensfreude. Die Darsteller in Afsahs Clip sind aber deutlich als Menschen mit Down-Syndrom zu erkennen. Angesichts der stark geschminkten und aufreizend in sexualisierten Posen Tanzenden Protagonistin fragen wir uns als Betrachter, ob hier Menschen zur Schau gestellt werden. Zeitgleich fühlen wir uns ertappt, weil wir den Protagonisten damit unterstellen, Mechanismen wie Anziehung und Verführung nicht zu durchschauen oder ihnen gleich ganz die Sehnsucht nach Liebe und Sexualität absprechen.
Behinderung und sexuelle Selbstbestimmung werden aktuell auch in Stina Werenfels' Film „Dora oder die sexuellen Neurosen unserer Eltern“ thematisiert und das reflexhafte Unwohlsein bei der ersten Betrachtung von Afsahs Clip sagt vielleicht mehr über uns, als über die Protagonisten ihres verspielten und lebensfrohen Videos aus.
Mit Markus Wambsganss Clip zur Neuabmischung von Liars‘ „Left Speakers Blown“ durch den japanischen Musiker MimiCof, war auch die Rubrik Abstraktes mit einem in 10.000 Einzelbilder eingefügten Wollfaden vertreten. Regisseur Konrad Hirsch, Verwalter des filmischen Erbes der Schamoni-Brüder und Musikvideoregisseur für das Label Schamoni Musik, verwendete Szenen aus „Jetzt & Alles“, der 1981 unter der Regie von YELLO-Mitglied Dieter Meier entstand und zeigt einen jungen Richy Müller zu der Musik von Sterils „Erstschlag““ in kultverdächtigen Posen.
Den rebellischen Geist von Oberhausen auf den Punkt brachte aber Lior Shamriz Video zu „The Cultural Attaché“ /„Tornado“ von Kreidler. Das Intro verzichtet konsequent auf ein Bild. So müssen sich die Zuhörer auf die aus dem Off erzählte, mysteriöse Geschichte eines Architekten konzentrieren. Dieser erhält über Umwege den Auftrag zu einem unmöglichen, unterirdischen Konstrukt in der Sahara, das nur in Schwarz und Weiß gestaltet sein soll. Zu dem Stichwort „Black & White“ schreit die Leinwand in grellem Weiß auf, rhythmisch flackern rechteckige, schwarze und weiße Formen auf. Hätte der russische Avantgardist Kazimir Malevič 100 Jahre später gelebt – so hätten seine Musikvideos ausgesehen. Shamriz liefert damit eine Ikone unserer Zeit, passend zum 100. Geburtstag, den Malevičs berühmtestes Werk „Das Schwarze Quadrat“ 2015 feiert.
Die Publikumsreaktion auf Shamriz Video dehnte sich zu kollektiv angespannter Erwartung aus und entlud sich in Empörung, aber auch lautem Lachen. Die Jury aus Nathan Budzinski, Antonin de Bemels und Sandra Trostel zeigte soviel charmante Unverfrorenheit zu Recht mit dem 2. Preis und 1.000 Euro aus.
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