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„Lydia“ von Christian Becker
Foto: Presse

Glück im Unglück

12. Mai 2021

NRW-Wettbewerb bei den 67. Kurzfilmtagen Oberhausen – Festival 05/21

In vielen Kulturen ist die 13 eine symbolisch aufgeladene Zahl, die mal mit Glück, mal mit Unglück assoziiert wird. Mit der Triskaidekaphobie gibt es sogar einen medizinischen Fachbegriff für die pathologische Angst vor der ungeraden Primzahl. Für den NRW-Wettbewerb, seit 2008 eine Sektion bei den Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen, scheint eben jene 13. Ausgabe eher ein Glück im Unglück gewesen zu sein. Aufgrund der Corona-Pandemie musste das Festival 2021 unglücklicherweise zum zweiten Mal als reine Online-Ausgabe stattfinden. Das Glück im Unglück besteht darin, dass die elf ausgewählten Kurzfilme mit Produktion in NRW von großer thematischer und ästhetischer Bandbreite zeugen, die die schwierigen Drehbedingungen des letzten Jahres nicht erkennen lassen, freie Produktionen dominieren. Inhaltlich ziehen sich Themen wie Krankheit und Tod, aber auch Aufbruch und Transgression wie ein roter Faden durch beide Programmblöcke.

Buchstäblich greift dies „Aus aktuellem Anlass“ von Johannes Klais und Florian Pawliczek auf. Die für das Duo typischen, langen und sorgsam komponierten Einstellungen porträtieren einen Schuster, die Kneipe ums Eck und einen Musiker in Zeiten von Corona. Die Sorgen sind groß, aber irgendwie wurschteln sich alle durch, was auch sonst? Regisseurin Elena Wiener zeigt mit „Trübes Wasser“, dass es auch vor und jenseits von Pandemien Menschen in Isolation gibt, die die Umwelt meiden müssen. In schlichtem Animationsstil schildert ihr Film die Folgen einer Autoimmunerkrankung für die Betroffene. Die Haut als Schutzhülle zur Wirklichkeit erinnert in ihrer Beschaffung an Stein, ist rissig, brüchig und rau. Sie juckt und wird bis ins offene Fleisch aufgekratzt. Wunden entstehen, durch die die Wirklichkeit –  auch mit vereinzelten Realifilmaufnahmen – in das Zuhause und den Körper der Erkrankten eindringt und sie von innen aufzufressen droht. Die Jury um Birgit Hauska, Hilde Hoffmann und Ulli Klinkertz würdigte „Trübes Wasser“ mit dem NRW-Förderpreis.

Trost in der Endgültigkeit

Eine Atempause boten an Zerstreuung grenzende Beiträge wie „La Bâche“, eine Art  Musikclip, der die traditionelle Heuernte in den französischen Hochalpen bestaunt oder „Tricks for Transformation“, eine die Found Footage-Kompilage die britische Kosmetiker, Perückenmacher, Friseure und Miniaturmaler bei der Arbeit zeigt. Ein My zu gewollt wirkte „weg von hier“, einer von nur drei im Kontext von Filmhochschulen realisierter Beitrag. Regisseur Jan Thierhoff wandelt damit auf den Spuren von Jean-Luc Godards „Außer Atem“. Die Chemie zwischen dem Paar, das optisch und im Habitus an Seberg/Belmondo erinnert, verpufft trotz Schwarzweiß-Ästhetik. Die düstere Animationsarbeit „Doom Cruise“, bei der eine absurde Arche seit mehr als 5000 Tagen auf einer postapokalyptischen See ihrem Titanic-Ende entgegen schippert, wirkte in ihrer Endgültigkeit und aufgrund des unaufgeregten Endes der Menschheit dagegen fast tröstlich.


„Bis zum letzten Tropfen“ von Simon Schnellmann, Foto: Presse

Eine lobende Erwähnung sprach die Jury für „Hoch sitzen“ aus. Oliver Gather nimmt zwei einander direkt gegenüberliegende Hochsitze im Wald als Ausgangspunkt einer dokumentarischen Betrachtung über Jäger. Jägerinnen tauchen hier nicht auf, es geht um Rituale, eine eigene Sprache und Moral, aber auch um die Entscheidung, ohne Not zu töten und Tiere mittels Sprache zu Objekten abzuwerten. Die Entscheidung ein „Stück“ – wie eine Sau, ein Rehkitz oder ein kapitaler Hirsch genannt werden – zu schießen trifft keiner von ihnen unüberlegt. Ist ein Tier getötet, wird in einem spirituell anmutenden Ritual Dankbarkeit für das Opfer suggeriert. Das weibliche Voiceover schafft Distanz zwischen Film und Publikum, Brauchtum und Motiv für die Freude am Töten bleiben zu Recht fremd und die Haltung des Films ambivalent. Denn wer würde einer Kuh, einem Huhn oder Schwein in Massentierhaltung nicht ein ebenso freies Leben vor der Schlachtung wünschen? Andererseits sind auch die „Stücke“ am Ende tot und landen als Dekoration an einer Wand.

Ringen mit dem Infusionsständer

Zwei weitere Preise im Wettbewerb würdigen Filme, in denen der Umgang mit einer tödlichen Krankheit auf ganz unterschiedliche Weise inszeniert wird. In „Bis zum letzten Tropfen“ ringt ein Strichmännchen mit einem Infusionsständer, an dem seine Dosis für die Chemotherapie baumelt. Es kämpft dagegen an, versucht zu fliehen und leidet Qualen unter den bekannten Nebenwirkungen. Aber sobald es sich der Chemo entzieht, klopft grinsend der Tod an die Tür und versucht es auf seine dunkle Seite des Bildes zu ziehen. Simon Schnellmann verarbeitet in dem kaum sechsminütigen Filmen mit einfachen Mitteln und viel schwarzem Humor seine eigene Leukämie-Erkrankung, die er vor acht Jahren überwunden hat. Die filmische Auseinandersetzung erhält den Preis der WDR Westart-Zuschauerjury. Im anschließenden Filmgespräch auf der Videoplattform der Kurzfilmtage muss Schnellmann mehrfach seine lebhaften Kinder im Düsseldorfer Homeoffice bändigen. Das wirkt sympathisch und wie eine verdiente Fortsetzung seines einst bedrohten Lebens.

Auch der mit 1.000 dotierte NRW-Preis geht an einen Film, in dem eine Krebserkrankung eine Rolle spielt. Christian Becker montiert für „Lydia“ Schmalfilmaufnahmen aus den 1970er Jahren, Fotografien und eingesprochene Tagebucheinträge von 1992. Dokumentarisch und intim zugleich, gefilmt, notiert, kommentiert und reflektiert von Lydias Ehemann. Mit den (auto)biografischen Fragmenten seiner eigenen Tante und seines Onkels schildert Becker nicht nur die Bedrohung durch eine Krankheit, die jederzeit wieder ausbrechen kann. Es ist auch die Geschichte einer drei Jahrzehnte dauernden Liebe, vor der Folie der frühen 1990er Jahre in der gerade wiedervereinigten BRD.  

Glück und Unglück sind eben doch nur zwei Seiten derselben Medaille. So düster der diesjährige NRW-Wettbewerb inhaltlich meist wirkte, an künstlerischer Vielfalt mangelte es der Auswahl nicht. Im Leben wie im Film gilt das, was der Schuster im Film „Aus aktuellem Anlass“ so treffend auf den Punkt bringt: „Es kommt immer mal 'ne Kurve. Auch auf der Autobahn“.

Maxi Braun

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