„Wie schnell die Zeit vergeht – das ist nicht nur das Motto für den Kurzfilm an sich, sondern auch für die Kurzfilmtage“, blickte Oberhausens OB Daniel Schranz wehmütig zurück, als er mit der Preisverleihung die finale Veranstaltung der 62. Kurzfilmtage eröffnete. Bevor die 17 Preisträger in den Kategorien Kinder- und Jugendwettbewerb, NRW-, Deutscher und Internationaler Wettbewerb ausgezeichnet wurden, verkündete Daniel Schranz noch einen Zuschauerrekord von 20.000 Eintritten.
Im Anschluss übernahmen Festivalleiter Lars Henrik Gass und Hilke Doering, zuständig für den Internationalen Wettbewerb, die Moderation und holten Juroren wie GewinnerInnen auf die Bühne im großen Saal der Oberhausener Lichtburg. Gass kommentierte in gewohnter Süffisanz „Die Juroren sind nicht zu beneiden. Sie müssen viele unverständliche Filme anschauen“.
Die Auswahl der Juroren ließ aber keine Scheu vor schwieriger Filmkunst erkennen. Im NRW-Wettbewerb wurde „Ocean Hill Drive“, ein experimentelles Werk von Miriam Gossing und Lina Sieckmann, zum besten Beitrag gekürt. Flickereffekte einer defekten Windkraftanlage stören die ruhigen Bilder eines unheimlichen Hauses, das wir begleitet von einer weiblichen Erzählstimme aus dem Off durchstreifen.
Auch im Deutschen Wettbewerb bewies die Jury mit ihrer Preisvergabe Begeisterung für unkonventionelle Arbeiten. „She Whose Blood is Clutting in my Underware“ der Künstlerin Vika Kirchenbauer vibriert an der Schnittstelle zum Musikvideo. Ihr Gewinnerclip spielt, wie schon „Convenient, Sacred, Blessed“ (mit dem sie 2015 in der MuVi-Sektion vertreten war) im Spannungsfeld von Gender, Sex, Intimität, Körperlichkeit und Gewalt. Verfremdet durch eine Wärmekamera inszeniert das Konzeptvideo einen Akt, der „laut und intim (…) brutal und zärtlich“ zugleich ist, wie die Jury die Vergabe des mit 5.000 Euro dotierten Preises begründete.
Im Internationalen Wettbewerb wurden insgesamt acht Preise vergeben. Jeweils doppelt ausgezeichnet wurden „If It Was“ von Laure Prouvost und „489 Years“ von Hayoun Kwon. Prouvost, die bereits 2011 mit ihrem surreal-absurden „The Artist“ den Hauptpreis bei den Oberhausener Kurzfilmtagen erhielt, schafft auch in „If It Was“ einen vor visuellen Ideen übersprudelnden Film. Mit Witz und weiblicher Note begegnet sie dem zur Zeit des Nationalsozialismus errichteten Haus der Kunst in München und kreiert einen imaginären Gegen-Ort, den man selbst gerne betreten würde. Dafür erhielt sie nicht nur den Preis der Internationalen Filmkritik (FIPRESCI-Preis), sondern auch den zweiten Preis der Jury des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW.
Der erste Preis derselben Jury ging an Hayoun Kwon für „489 Years“. Die Zeugenaussage eines südkoreanischen Soldaten führt uns in die demilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea in unbekanntes, vermintes Terrain. Wie in einem Videospiel in Egoshooter-Perspektive tasten wir uns in Umgebung und Erinnerungen des Soldaten vor. Der Tod lauert im Boden, jeden Moment kann eine Mine explodieren. Um uns herum entfaltet sich im Kontrast zur unsichtbaren Bedrohung märchenhafte Flora und Fauna, die in Abwesenheit des Menschen prachtvoll gedeiht. Ein Film mit starker Immersionskraft, die uns mit dem Schicksal des erzählenden Soldaten verbindet und uns mit ihm erleichtert aufatmen lässt. Ein starkes Plädoyer gegen den Krieg, für das Kwon außerdem mit dem Preis der Ökumenischen Jury ausgezeichnet wurde. Beide Auszeichnungen nahm sie sichtlich überwältigt selbst in Oberhausen entgegen.
Girlstalk
Auch der mit 8.000 Euro am höchsten dotierte Preis ging mit Louise Carrin an eine Regisseurin. In „Venusia“ lässt sie die ZuschauerInnen an einer Frauenfreundschaft zwischen Bordellcheffin Lisa und ihrer faulen Angestellten und Freundin Lena teilhaben. Während wir beide fast in nur einer einzigen, totalen Einstellung beobachten, streifen sie Zigarre paffend alle Themen, die das Leben so bereithält – Beruf, Zukunft, Liebe, Geld, Familie. Fast vergessen wir, dass es sich um den Alltag in einem Luxuspuff handelt, sind die Freier doch nur pars pro toto durch ihr unterbrechendes Tür- und Telefonklingeln anwesend.
Eie Frauenquote brauchen die Kurzfilmtage wahrlich nicht. Circa die Hälfte aller 550 gezeigten Filme stammten von Regisseurinnen, bei der Preisvergabe sind die Frauen sogar überdurchschnittlich vertreten. Hielte der Trend an, bräuchte Oberhausen vielleicht doch bald eine Quote – und zwar für Männer.
Ein paar männliche Filmemacher kamen aber auch in diesem Jahr noch zum Zug. Patrice Laliberté konnte mit „Viaduc“ über einen Jugendlichen bei einem selbstmörderischen Graffiti-Abenteuer nicht nur den Preis der Jugendjury, sondern auch das Prädikat der Ökumenischen Jury für einen Film im Internationalen Kinder- und Jugendfilmwettbewerb entegegen nehmen.
Den Hauptpreis im Internationalen Wettbewerb (4.000 Euro) erhielt der Philippiner Lav Diaz für „Ang araw bago ang wakas“ (The Day Before the End). In kraftvollen Schwarz-Weiß-Bildern setzen die Protagonisten dem Lärm der Stadt und einem Jahrhundertsturm Zeilen von Shakespeare entgegen. Mit dem Ausruf „Shakespeare!“ beendete treffend ein Freund des abwesenden Diaz seine gebeatboxte Dankesrede.
Über Kategorien wie Geschlecht ist man in Oberhausen aber eigentlich längst hinweg und auch für 2017 darf man wieder viele anstrengende, unverständliche und damit herausfordernde Filme erwarten – egal ob aus weiblicher, oder männlicher Hand.
Wer jetzt keinen kalten Entzug verträgt, hat heute Abend (11.5.) ab 23:55 Uhr nochmal die Möglichkeit, Filme der Kurzfilmtage 2015 auf 3Sat zu sehen.
Alle Preisträger finden Sie hier: www.kurzfilmtage.de/festival/preistraeger
Lesen Sie auch unseren ausführlichen Beitrag zum NRW-Wettbewerb.
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