Seit 1998 würdigen die Kurzfilmtage nun in der Sektion MuVi International das Musikvideo als Kunstform, seit 1999 wird der Preis für das beste Musikvideo mit Produktion oder Regie in Deutschland vergeben. Ein wenig Stolz war den KuratorInnen Jessica Manstetten und Hans-Christian Grimm bei der 20. Verleihung der MuVi-Awards, die traditionell am Samstag der Kurzfilmtage stattfindet, anzumerken. Außerdem freuten sie sich über das mit 68 Minuten Lauflänge längste MuVi-Programm. Aus 238 eingesandten Clips wurden elf Arbeiten für den Award ausgewählt.
In „Things“ (Regie: Markus S. Fiedler) prallen blaue und rote Kugeln aufeinander, trennen sich wieder, bis sie sich zu Figuren zusammen finden. Zum Rhythmus eines von Andreas Spechtl komponierten Stücks beobachten wir fließende Übergänge dieser Formen, die wie der Tanz von Verbindung, Zerfall und neuerlicher Komposition auf atomarer Ebene anmuten. Bis auf „Things“ sind alle Clips in diesem Jahr weniger abstrakt als konkret und von lebendigen Menschen bevölkert.
„Don‘t“ von Daniel Freitag (Musik & Regie) inszeniert Sandra Hüller („Toni Erdmann“) als Superheldin im silbrigen Catsuit und in Wartestellung. Sie harrt vor dem Telefon aus, wartet auf einen Anruf – ob es um den eines Lovers oder den Auftrag zur Weltrettung geht, bleibt unklar. „Tutorial“ von Dennis Todorović stellt mit zehn deutschen Schauspielerinnen, darunter Corinna Harfouch, Lisa Martinek oder Petra Nadolny, ein Schauspiel-Tutorial als Anleitung zum gefakten Weinen nach, zur Musik von Erdmöbel. Ebenfalls zur Musik von Andreas Spechtl und Station 17 arbeitet sich der Clip zu „Dinge“ nach kurzer Exposition in einer einzigen, langen Plansequenz durch einen Trödelladen und nimmt die Perspektive eines Rollstuhlfahrers ein.
Die Jury – Berliner Musiker und Produzent DJ Hell, Künstlerin Marisa Olson (USA) und Autor Simon Reynolds (Großbritannien) – entschied sich für zwei experimentelle Clips, die beide auf unterschiedliche Art und Weise Fremdmaterial in neue Kontexte einarbeiten. Ulrike Göken und Jo Zimmermann, bekannt als Kölner Künstlerduo Schlammpeitziger, erhielten den mit 1.000 Euro dotierten 2. Preis für ihre Kollaboration mit den ukrainischen KünstlerInnen von Kota Utka. Deren eigenwillige Foto-Inszenierungen des weiblichen Körpers dienten als visuelle Grundlage zu dem Stück „Damenbartblick“.
Die Jury lobte das „subtile Spiel mit Stillstand und Bewegung“ und die Zusammenarbeit als Beispiel für die Völker-verbindenden Möglichkeiten des Internets. Eine schöne, vielleicht sogar politische Geste, aber der Preis hätte eher Kota Utka gebührt als Schlammpeitziger für ihre nur minimale Verfremdung und Bearbeitung der Fotos. Jo Zimmermann feierte aber während des gesamten Screenings und brachte seine Energie direkt mit auf die Bühne. „Weniger Rock‘n‘Roll. Mehr Kunst hier, was?“ stellte er lakonisch fest.
Auch im Video, das den 1. Preis erhielt, wird vorhandenes Filmmaterial neu kompiliert. Zu Yves Tumors Komposition „Limerence“ ordnet Regisseur Oliver Pietsch Duschszenen der Filmgeschichte in einem Splitscreen wie in einem Triptychon an. Beginnend mit der Ikone aller Duschszenen aus „Psycho“ (in Original und Remake), werden BetrachterInnen zu Voyeurin der – dem kollektiven Filmgedächtnis sei Dank – gleichzeitig bedrohlichen wie sexuell aufgeladenen Atmosphäre unter der Dusche. Genrell ist die Dusche gesellschaftlich ein Un-Ort, der Blicken von außen verborgen bleibt. Hier wird nicht nur gesungen, sondern masturbiert oder gevögelt. Im Film wird der weibliche, gelegentlich auch der männliche Körper in all seiner Verletzlichkeit exponiert. Die Jury erkannte darin „idyllische, amüsante oder ganz einfach geheimnisvolle Momente“ und attestierte dem Clip durch das Zeigen der Dusche als Ort, an dem die Folgen weiblicher Traumata oft dargestellt werden, einen „feministischen Subtext“.
Das Publikum konnte online vom 5. April bis 4. Mai für das beste Musikvideo voten und entschied sich nicht für eine gefälligere, aber für eine äußerst unterhaltsame Arbeit und feierte den auf über zehn Minuten ausgedehnten Clip zu dem Song „Copyshop“. Jakob Grunert schickt darin den Berliner Rapper Romano nach Hongkong, lässt ihn inmitten der Megacity zwischen fernöstlichen Plattenbauten und jeder Menge Bling Bling von seiner Arbeit als Eintrittskarten- und Geldfälscher in einem Copyshop erzählen. Von diesen Stories wird der Song immer wieder unterbrochen. Der gute Flow des Refrains von der Kopie von der Kopie von der Kopie von der Kopie passt perfekt in das für, nun ja, seine ungezwungene Imitationslust bekannte China. Der Köpenicker Rapper ist mit seinen beiden blonden Zöpfen und ironischen Haltung allein schon eine Ausnahmeerscheinung und wohltuender Kontrast zu den Farid Bangs und Kollegas der deutschen Szene. Sehenswert ist auch sein Clip zum Song „Mutter“, in dem Katharina Thalbach eine ziemlich krasse „Ghetto-Mudda“ gibt.
Pünktlich zum Jubiläum ist der Band „after youtube – Gespräche, Portraits, Texte zum Musikvideo nach dem Internet“ erschienen. Wer will, kann darin auf 208 Seiten mit Analysen verschiedener AutorInnen die ästhetische Entwicklung des Genres in den letzten zwei Jahrzehnten noch einmal nachvollziehen (Hrsg. von Lars Henrik Gass, Christian Höller, Jessica Manstetten, erschienen bei Strzelecki Books, Köln).
Alle Musikvideos sind auf der Webseite der Kurzfilmtage Oberhausen verlinkt.
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