Schon Anfang des Jahres zeichnete sich ab: Das wird wieder nichts. Mit steigenden Inzidenzen und einem andauernden Kultur- und somit Kinolockdown trafen die Oberhausener Kurzfilmtage Ende März 2021 die Entscheidung, das Programm erneut ins Netz zu verschieben und das Festival als reine Online-Ausgabe zu feiern. Auch für Fans des anspruchsvollen Kurzfilms hieß es statt runter von der Couch: Rollos runter und im Widerschein des Monitors stundenlang alleine Filme schauen.
Das einige der 400 gezeigten Filme nur an bestimmten Tagen und zu festgelegten Uhrzeiten zu sehen waren, verlieh den heimischen Streamingsessions dann zumindest einen leichten Hauch von Eventcharakter. Auch die Möglichkeit, sich abseits der Video-on-Demand Plattform im Festival Space virtuell zu treffen und per Maus den eigenen Avatar eine Runde drehen zu lassen, machte den Austausch mit Gleichgesinnten zwischen den Programmblöcken immerhin möglich. Auch die Preisverleihung am 10. Mai – eröffnet von einem ernst und gedämpft gestimmten Festivalleiter Lars Henrik Gass vor schwarzem Hintergrund – fand online statt. Die dabei unablässig den Bildschirm flutenden, euphorischen Emojis konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Auswahl der Jurys den Zeitgeist spiegelte.
Details bei wiederholtem Sehen
Insgesamt wurden 27 Preise in acht Wettbewerben mit Preisgeldern im Wert von 52.000 Euro vergeben. Der Hauptpreis der internationalen Jury ging an den Künstler Su Zhong für „8‘28“. Seine ebensolange Plansequenz fräst sich durch die Eingeweide des Kapitalismus, Blut und Körperteile halten Getriebe und Produktion am Laufen. Östliche und westliche Mythologien mischen sich. Gottheiten marschieren auf einer gemeinsamen Parade, in einem einstürzenden Theater tanzen US-amerikanische Superhelden von Batman bis Deadpool. Im Hintergrund ziehen sich die typischen Bauwerke der Metropolen zu einer Skyline zusammen. Vor den Toren der Städte feiern bis auf das Muskelfleisch entblößte Kreaturen eine Orgie voller Lust und Gewalt. Zhong reißt damit einer Welt die Kleider vom Leib, die schon vor der Pandemie bis ins Mark verdorben war, aber in ihrer Fülle eindrucksvoll animiert ist und deren Details sich erst bei wiederholtem Sehen offenbaren.
Mit dem Großen Preis der Stadt Oberhausen wurde mit „Toumei na watashi“ (Transparent, I am) ein leiseres, aber visuell und narrativ ebenso vielschichtiges Werk ausgezeichnet. Die japanische Künstlerin Yuri Muraoka verwebt darin Found Footage, Animationen und Standbilder zu einem Kaleidoskop ihrer eigenen Schizophrenie-Erkrankung und schildert, was diese für sie und ihre Familie bedeutet. Corona ist durch die als Projektionsfläche genutzte Maske ein Teil der Szenerie. Während bei Muraoka das Leben zumindest für einen Moment triumphiert, befindet sich in „A terra de não retorno“ (The Earth of no Return) die Hölle direkt auf Erden. Der von der Jury des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen ausgewählte Beitrag von Patrick Mendes erinnert in Tonalität und Ästhetik an Pier Paolo Pasolini. In einer nicht definierten Zeit klatscht ein Toter vom Himmel kopfüber in den Fluss. Danach praktiziert eine archaische Gesellschaft Rituale, bei der neue Augen im Feuer geschmiedet werden. Am Ende stehen alle still und andächtig in karger Landschaft im Kreis und eine ins Bild berserkernde Maria Callas als Medea scheint unausweichlich. Da durchbricht hämmernder Metal die Stille und der Abspann folgt.
Proletarisches Vieh
Im Deutschen Wettbewerb setzte sich mit „Proll!“ von Adrian Figueroa eine realistische Milieustudie über prekär Beschäftigte durch. Der Lieferfahrer verpasst den Fahrstuhl und die Hochzeit seines Bruders. Eine Kartonfabrik schließt und ein Mitarbeiter wird nach 15 Jahren entlassen, ohne einen Tag krank gewesen zu sein. Eine Klick-Arbeiterin arbeitet, datet und schläft im Homeoffice. Die „Working Poor“ sind einsam, aber jede*r für sich. Allein das zu Beginn angefahrene Schaf steht vielleicht für das proletarische Vieh, das schon Sergej Eisenstein in „Streik“ parallel zu Arbeitermassen montierte.
Im NRW-Wettbewerb gingen alle Preise an Filme, die von Krankheiten handeln. Die WDR-Westart-Publikumsjury prämierte den schwarzhumorigen Animationsfilm „Bis zum letzten Tropfen“, mit dem Regisseur Simon Schnellmann seine eigene Leukämie-Erkrankung verarbeitet. Als sein Stichmännchen-Ego am Ende das Krankenhaus geheilt verlässt, prangt auf der Tür die zweifelhaften Abschiedsloskel „Bis zum nächsten Mal!“. Der mit dem NRW-Föderpreis bedachte Animationsfilm „Trübes Wasser“ von Elena Wiener thematisiert eine Autoimmunerkrankung und Christian Becker setzt fragmentarische Selbstzeugnisse aus Schmalfilmaufnahmen und Tagebucheinträgen seines Onkels zu dem Mosaik der Krebserkrankung seiner Tante Lydia zusammen (NRW-Preis für „Lydia“).
Die meisten prämierten Beiträge scheinen inhaltlich und ästhetisch von der Situation und Lage, in der wir alle uns seit mehr als einem Jahr befinden, geprägt. Eine gewisse Schwermut, persönliche Schicksalsschläge oder gesellschaftliche Verwerfungen bis hin zur ultimativen Grenzüberschreitung des Todes weben sich wie ein roter Faden durch die Jury-Entscheidungen. Das macht die diesjährige Festivaledition nicht schlechter als andere, wohl aber zum Zeugnis eines emotionalen Momentums. Filmisch sind die düsteren Themen aber so abwechslungsreich und vielschichtig verarbeitet, dass Vorfreude auf die Kurzfilmtage 2022 angemessen ist. Die 68. Ausgabe soll wieder hybrid und live vor Ort stattfinden. Das Programm könnte dann vor einem Geist des Aufbruchs und der wiedererlangen Lebensfreude nur so strotzen.
Eine vollständige Liste aller Preisträger*innen finden Sie hier.
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