trailer: Ariel, in Argentinien herrschte ein sechsmonatiger Lockdown. Hast du nach der Ankunft im Ruhrgebiet erst einmal die Freiheit genossen?
Ariel Magnus: Ja, wir hatten in Argentinien den längsten Lockdown der Welt. Aber so richtig konnte ich die Freiheit am Anfang nicht genießen, denn mein Corona-Test am Flughafen ist verloren gegangen! Dann musste ich erst mal warten und einen zweiten Test machen. Und jetzt kommt auch hier der Lockdown.
Konntest du noch die typischen Ruhrgebiets-Dinge wie Fußballspiele oder Zechen besuchen?
Ja, ich sah mir das Spiel zwischen Dortmund und Schalke an. Aber wir waren ja nur 300 Zuschauer, es fehlte etwas. Eine Zeche dagegen habe ich noch nicht besichtigt. Aber in Bolivien besuchte ich ein Bergwerk im sogenannten Berg der sieben Farben. Dort arbeiten Kinder, man kann kaum atmen. Es war eine eindrucksvolle Erfahrung, die ich jetzt als eine Vorbereitung zum Ruhrgebiet empfinde. Diese Region ist für mich die spannendste in Deutschland, das Ruhrgebiet hatte immer etwas Mythisches für mich. Das sah ich schon in meiner deutschen Schule in Buenos Aires so, wo ich Geographie auf Deutsch und vor allem aus Deutschland lernte.
„Mit Klischees und Vorurteilen ist die Verbindung zum Leser sofort da“
Der letzte Metropolenschreiber Ruhr, Wolfram Eilenberger, kritisierte eine nostalgische Hinwendung des Ruhrgebiets, das von der Vergangenheit lebt. Dazu gehörten für ihn auch die Klischees wie Bergbau oder Fußball. Wie siehst du das?
Klischees sind für mich nicht unbedingt etwas Schlechtes, im Gegenteil. Ich brauche sie, um mich darüber lustig zu machen. Außerdem helfen sie, die Identität einer Region zu bilden, auch im Kampf dagegen. Als jemand, der aus dem Land des Tangos und somit der absoluten Nostalgie kommt, sehe ich auch in diesem Merkmal des Ruhrgebiets etwas durchaus Positives. Es ist schön, in einer Region zu sein, die man liebt, auch wenn sie nicht schön im üblichen Sinne ist und ihre besten Jahre anscheinend hinter sich hat. Es ist die Sicht eines Frank Goosen, mit der ich mich sofort zu Hause fühle. Vom literarischen Gesichtspunkt sollen die Industrie und die Gesellschaft aus dieser nostalgischen Falle herauskommen und in die Zukunft blicken. Aber Literaten und Künstler dürfen länger in der Vergangenheit verweilen und den Mythos weiter hüten. Denn daraus entstehen eine Identität und ein Heimatgefühl. Ich hoffe, zu diesem Mythos mit meinem fremden Blick beizutragen.
In welcher literarischen Form willst du dich mit dem Ruhrgebiet auseinandersetzen?
Durch Fiktionen, genauer: Kurzgeschichten. Das wäre eine Idee: Ein Bolivianer geht zum Beispiel in Potosí malochen und erscheint hier im Ruhrgebiet. Dann trifft er Katlewski, diese Figur aus dem Film „Jede Menge Kohle“. In diese Richtung werde ich arbeiten und mir womöglich kein Klischee entgehen lassen. Ich habe das schon in meinem Roman „Ein Chinese auf dem Fahrrad“ probiert, wo es über chinesische Immigration in Argentinien geht und bestätigt, dass es funktioniert – sogar außerhalb der Grenzen des eigenen Landes. Wenn man mit Klischees und Vorurteilen arbeitet, ist die Verbindung zum Leser sofort da. Und man kann sich mit ihm leichter über die eigene Engstirnigkeit auseinandersetzen.
„Die Probleme der Immigration ähneln sich überall“
Ist es etwas, das sich auch für einen literarischen Blick auf das von Migration geprägte Ruhrgebiet eignet?
Ich denke schon. Die Probleme der Immigration ähneln sich überall, vor allem in einem Punkt: Es ist meistens ein Problem der eigenen Einstellung gegenüber Fremden, der eigenen Intoleranz und des eigenen Wahns, sich für was Besonderes zu halten. Polizeiliche Probleme sind dann meistens die Konsequenz, nicht die Ursache. Als Kind einer Einwandererfamilie – ich habe deutsche Großeltern und eine brasilianische Mutter –, das in einem Einwanderungsland aufgewachsen ist, fühle ich mich auch in dieser Hinsicht mit dem Ruhrgebiet verbunden.
Was sieht dieser Blick des Fremden?
Ein Beispiel, das ich sicherlich literarisch verarbeiten werde: Ich besitze die deutsche Staatsangehörigkeit, bin aber mit einer Spanierin verheiratet und wurde deswegen für meine Anmeldung zum Ausländeramt geschickt. Also, statt die Frau eines Deutschen als quasi deutsche Bürgerin zu betrachten, sieht man sie als Ausländerin, als Fremde. Wie will man angesichts solcher bürokratischen Entscheidungen über kulturelle Integration reden? Dazu was Lustiges: Das Ausländeramt in Mülheim an der Ruhr wurde zusammen mit einem einzigen weiteren Amt gestellt, und zwar ausgerechnet mit dem Veterinäramt! Wie ich eine solche Idee literarisch übertreffen kann, ist mir noch rätselhaft.
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