Stellen Sie sich vor, Sie wachen morgens auf und ihr Kind ist verschwunden, einfach so. Was tun Sie? Sie rufen ihren Sohn oder ihre Tochter auf dem Handy an, kontaktieren FreundInnen ihres Kindes. Danach melden Sie sich bei der Polizei, eine Vermisstenanzeige wird aufgenommen. Vielleicht kleben Sie Plakate, starten Aufrufe im Internet, suchen in Sozialen Netzwerken, in denen sich ihr Kind bewegte, nach Hinweisen. Wenn Sie es geschickt anstellen, mobilisieren Sie eine breitere Öffentlichkeit, die Presse berichtet über den Fall, das Foto wird im Fernsehen gezeigt. Die Polizei ermittelt akribisch, eine Sondereinheit verfolgt Spuren, Hundertschaften durchkämmen den nahe gelegenen Wald. Trotzdem machen Sie sich Vorwürfe, vermuten das Schlimmste, verzweifeln, denn nichts ist schlimmer als die Ungewissheit.
Was passiert, wenn ein unbegleiteter, minderjähriger Flüchtling verschwindet? Zunächst einmal nicht viel, zumindest auf Behördenseite: Asyleinrichtungen oder die zuständigen Jugendämter melden das Verschwinden, Daten werden ausgetauscht. Das kommt nicht selten vor: Auf eine kleine Anfrage von der Fraktion der Grünen gab der Deutsche Bundestag am 13.4.2016 an, dass 2015 in Deutschland 8.004 minderjährige Geflüchtete vermisst werden. Der „Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge“ meldete Anfang 2016, dass laut Europol in den 18-24 Monaten zuvor europaweit 10.000 minderjährige Geflüchtete verschwunden seien. Genaue Zahlen fehlen. Viel mehr Informationen dazu gibt es nicht, von einigen Artikeln und der TV-Reportage „Verschwunden in Deutschland“ der beiden ARD-Journalistinnen Natalie Amiri und Anna Tillack abgesehen.
Einer von ihnen ist Merih, der aus Eritrea stammt und im November 2016 plötzlich verschwand. Zuvor wirkte er zwei Jahre lang beim Transnationalen Ensemble Labsa in Dortmund mit, das Menschen mit und ohne Fluchterfahrung zusammenbringt. In Kooperation mit der Jugendhilfe GrünBau entwickelt das Ensemble Kunstprojekte an der Schnittstelle von Schauspiel, Tanz, Video, Musik, Literatur oder Performance. Anders als die Behörden – denen es nicht zwingend an Interesse, aber an Zeit, Personal und persönlichem Bezug mangelt – wollte das Ensemble nicht länger untätig bleiben, was Merih und sein Verschwinden betrifft.
Für das „Tomorrow Club-Kiosk-Edition“-Festival, das mit Workshops, Konzerten und Aktionen die Inbetriebnahme der neuen Räumlichkeiten auf der Langen Straße 98 feiert, wurde in nur zwei Wochen der Kurzfilm „Blackbox Merih“ von Betty Schiel, Emilia Hagelganz, Thomas Engbergs und dem Ensemble realisiert. Es geht auch um das, was das Verschwinden mit denen macht, die Merih zurückgelassen hat. Die Mitglieder des Ensembles erzählen Anekdoten über ihn wie die, als er seinen Freund Yacouba einfach ins Wasser schmiss, um ihm das Schwimmen beizubringen. „Was ist das denn für eine Scheißmethode?“ erinnert sich Yacouba lachend.
Wenn ein anderer Freund sich laut fragt „Wer will denn bitte Merih entführen?“, müssen auch alle im improvisierten Kino lachen. Spekulationen wie die, ob Merih in sein Heimatland zurückgekehrt ist oder Schulden hatte und vor Schleppern floh, spiegeln die Sorgen seines Umfelds wider. Es geht aber auch um die Frage „Hätte ich etwas tun können, damit Merih nicht einfach geht?“. Der Film endet mit eindringlichen Botschaften an Merih, sich bitte zu melden.
In der anschließenden Diskussion mit dem freischaffenden Kulturwissenschaftler Patrick Ritter, Sozialpsychologin Monique Kaulertz und Student Joey aus Guniea geht es zunächst eher um das Leben als Geflüchteter in Deutschland allgemein. Joey schildert sein „bürokratisches Martyrium“, ein Kampf um Anerkennung, bezahlbare Sprachkurse und gegen behördliche Willkür fern jeder Lebensrealität. Das beamtendeutsche Labyrinth ist schon für Muttersprachler undurchdringlich, wie muss es sein, wenn man diese Sprache erst lernt?
Solche Hindernisse können ein Grund dafür sein, dass Flüchtlinge untertauchen. Andere versuchen, zu Angehörigen in Deutschland oder anderen europäischen Ländern zu gelangen, wo sie wieder auftauchen. Manche wollen zurück in die Heimat. Weil sie hier nie wirklich angekommen sind oder ihre Familie vermissen, die sie zurücklassen mussten. Wie viele in Deutschland bleiben und in die Kriminalität abrutschen, Opfer von Zwangsprostitution oder Menschenhandel werden, ist nicht bekannt.
Die Auseinandersetzung mit dem Fall Merih ist für seine Freunde aber zunächst eine persönliche. „Wenn wir das nicht öffentlich machen, was mit Merih passiert ist, wenn wir nichts tun und das einfach so hinnehmen, wird uns das für immer trennen“, beschreibt Mitgründerin Emilia Hagelganz ihr Gefühl. Patrick Ritter findet, der plötzliche Verlust sei wie eine Amputation ohne Narkose. Yacoube drückt es im Film so aus: „Wir nehmen das einfach so hin. Was ist, wenn ich irgendwann plötzlich weg bin? Sucht dann auch keiner nach mir? Leben wir dann alle ganz normal weiter, als wäre nichts passiert?“.
Das konkrete Verschwinden minderjähriger Flüchtlinge lässt sich auf die gesamte Fluchtthematik und den gesellschaftlichen Umgang damit übertragen. „Dieses Verschwinden wird institutionell vorbereitet. Geflüchtete werden in den Abschiebezentren dem Blick der Gesellschaft entzogen. Selbst Ehrenamtliche haben da keinen Zutritt“, erklärt Monique Kaulertz. Patrick Ritter ergänzt, dass auch Begriffe wie „Abschiebungsquote“ oder „Obergrenze“ die dahinter stehenden Schicksale bewusst unsichtbar machten. Auch europaweit lässt sich das beobachten. Hunderttausende sind noch immer auf der Flucht, ertrinken tagtäglich im Mittelmeer oder sind in Auffanglagern auf unbestimmte Zeit und unter unzumutbaren Bedingungen festgesetzt.
Die Organisationen und ehrenamtlichen HelferInnen, die sich für Geflüchtete engagieren, verhindern nicht den Eindruck, dass wir als Gesellschaft dazu mehrheitlich schweigen. Merih hat sich am 2.7.2017 bei einem Freund via Whatsapp gemeldet, er sei jetzt in Belgien. Sein Fall steht exemplarisch dafür, dass wir die Menschen nicht vergessen dürfen, die unseren Blicken entzogen sind. Aus den Augen, aus dem Sinn – das funktioniert weder für das unmittelbare Umfeld, noch wird es auf Dauer als Konzept für die Fluchtbewegungen Richtung Europa funktionieren.
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