„Die lebenden Toten“: Kilian Land, André Kaczmarczyk, Antje Trautmann
Foto: Matthias Horn
„Aufkommen eines neuen Post-Humanismus“
28. April 2016
Christian Lollike über „Die lebenden Toten“, das bei den Ruhrfestspielen Premiere feiert – Premiere 05/16
Sie reißen alles an sich und wollen werden wie wir. Europa in Gefahr. Das Mittelmeer wie eine offene Grenze. Futuristische Waffen gegen eine Armee Untoter, die von den Wellen herangetragen wird. Wozu sonst gibt es die EU-Grenzschutz-Agentur Frontex? Mittendrin: Eine Filmcrew, die an einem abstrusen Vampirfilm arbeitet, der das reale Grauen noch übertreffen soll. Der dänische Autor Christian Lollike schrieb das Stück „Die lebenden Toten“ im Jahr 2014, als die Bilder der toten Flüchtlinge vor Lampedusa die europäischen Verdrängungsmechanismen ad absurdum führten und das Mittelmeer zu einem symbolischen Ort gescheiterter Flüchtlingspolitik wurde. Bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen feiert die Koproduktion mit dem Staatsschauspiel Dresden Uraufführung und Premiere.
trailer: Herr Lollike, wenn keine Lösungen in Sicht sind, hilft da überhaupt noch die Analyse im Theater? Christian Lollike: Ich glaube nicht, dass es mein Job als Theaterautor ist, Lösungen zu finden. Ich schreibe Theaterstücke, die, so hoffe ich, die Befindlichkeit und die dazugehörende Situation in Europa spiegeln. Das ist hier eine beängstigende Landschaft geworden. Ich denke, wir beobachten gerade den langsamen Niedergang des Humanismus und das Aufkommen eines neuen Post-Humanismus. Wir werden das noch erleben.
Also Hoffnungslosigkeit?
Christian Lollike
Foto: Martin Bubandt
Zur
Person
Christian
Lollike wurde 1973 in Dänemark geboren. Er arbeitete als
Regieassistent von Miguel Rubio am Yayachakani Theater in Lima, Peru,
und ist Gründungsmitglied von „The Sheriff“, einer Gruppe, die
gegen vorhersehbares Theater kämpft. 2001 schloss er sein Studium
des Szenischen Schreibens am Theater Aarhus ab. Lollike verfasst
Hörspiele, Drehbücher und Theaterstücke, die er zum Teil selbst
inszeniert. Seit 2010 ist er Künstlerischer Leiter des CaféTeatret
in Kopenhagen, das sich jüngst in Sort / Hvid umbenannte.
Ich denke, es gibt Lösungen. Aber sie sind schwer zu finden, und ich frage mich welche Art von neuem oder zumindest anderem Bewusstsein auftauchen muss – und wird es auftauchen, bevor der Rest der Zombies da ist.
Wie weit ist Europa also von der „I Am Legend“-Symbolik eines Richard Matheson noch entfernt? Ich kenne seine Arbeit nicht gut genug, um diesen Vergleich tatsächlich ziehen zu können.
Die Angst vor einer eklatanten Veränderung ist aber doch nicht unbegründet? Nein, das ist sicher eine sehr konkrete Angst vor einem Kollaps der EU, die momentan immer größer wird. Die offenen Grenzen an Europas Grenzen, die schlechte Situation der Flüchtlinge in den Lagern der jeweiligen Ländern, aber auch die Furcht vor einem immer freier werdenden Arbeitsmarkt sind sicher einige der Gründe. Und dann ist da auch noch der Niedergang oder gar der Verlust der Wertvorstellungen. Können Menschen überhaupt ohne solche Regeln leben? Wir suchen Schutz in der Religion, wir denken über neue Religionskriege nach. Wir fallen zurück in die Vergangenheit.
Und dieser Rücksturz findet auch im Stück statt? Die Charaktere im Stück ändern ständig ihre Standpunkte. Das tun sie so geschickt, dass man annehmen muss, sie seien wie wir alle. Im Moment sieht es so aus, als hätten wir tatsächlich vergessen, welche unserer Werte es wert seien, bewahrt zu werden und welche vielleicht auch nicht. Ich habe versucht, im Stück diese Konfusion zu beschreiben, in der wir uns befinden.
In ihrem Stück bedrohen uns die Untoten als Zombies und Vampire. Aber Vampire sind keine Zombies, oder doch? Nein, eigentlich nicht. Vampire sind eher clevere Aristokraten, die Kohle machen und mit so manchem Traum wie an die wahre, ewige Liebe leben müssen. Ein Geist dagegen ist eher nationalistisch, will sein Haus, Hof und Land beschützen. Er versucht, die Menschen mit Furcht zu vertreiben, und ein Zombie ist, nun, schaut Euch die Vorstellung in Recklinghausen an und ihr werdet es herausfinden.
Und Frontex ist dann eben auch nicht van Helsing, und damit gibt es nur trügerische Hoffnungen für die Zuschauer im Stück? Nein, Frontex ist ganz sicher nicht van Helsing, niemals. Aber was und wer ist Frontex gerade überhaupt? Wir haben uns eine Grenzschutzpolizei geschaffen, obwohl wir nicht einmal wissen, unter welcher staatlicher Gesetzgebung oder Kontrolle die überhaupt tätig werden. Und bewältigen sie die Probleme zusammen mit Ländern außerhalb Europa, und wer hat ihnen das Mandat dafür gegeben?
Also hat sich der Zustand in Europa in den letzten Jahren derart verändert, dass wir nun in einem Horrorfilmszenario leben müssen? Ich denke schon. Wir leben mit einem Szenario, wo wir jede Woche mit neuen Katastrophen konfrontiert werden, und es sieht so aus, als ob wir unsere eigene Geschichte vergessen hätten. Dazu kommt noch, dass alles so schnell passiert, und schon produzieren wir eine grundsätzliche Unsicherheit, die dazu führt, unsere menschlichen Werte in Frage zu stellen.
Und die Untoten kommen immer weiter. Ich schreibe und aktualisiere das Stück bis zur Premiere und verfolge dabei die Zombiekrankheitsentwicklung jeden Tag.
Aber es gibt kein Heilmittel im Theater? Nein, und keine Lösungen, aber es kann mit unterschiedlichen Ideen und neuen Wertvorstellungen spielen.
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