Duschvorhänge XXL verbergen den Blick auf die Bühne, dieselben Kunststoffbahnen teilen den Raum in Kabinen. Der Mittdreißiger Dalton Harron, genannt Diddy, stellvertretender Direktor der Werbeabteilung einer Firma, die Mikroskope herstellt, bastelt gerade an einem Selbstmordversuch. Nicht dass die Zuschauer das genau sehen könnten. Die Szenerie ist eigentlich eine multimediale Performance, wobei die Schauspieler mit dem Rücken auf Schreibtischen liegen und in senkrecht aufgehängte Videokameras starren. Textfetzen, Großaufnahmen der Gesichter. Bedächtig, artifiziell traumatisch beginnt im Schlosstheater in Moers Susan Sonntags Stück „Todesstation“, das eigentlich ein Roman von 1967 ist.
Intendant Ulrich Greb hat den 400 Seiten-Text der New Yorkerin bearbeitet und inszeniert, herausgekommen ist eine furchterregende Achterbahnfahrt durch die Psyche des Menschen in sechs Szenen. Die Zweite: Der von Ulrich Wickermann ziemlich als Jedermann gespielte Diddy ist gerade auf dem Weg zu einer Konferenz, als sein Zug, der auch noch „Freibeuter“ heißt, in einem Tunnel anhalten muss. Niemand erfährt darüber etwas Genaues, der Zugbegleiter hüllt sich in Schweigen, und eigentlich interessiert das die Passagiere auch gar nicht. Doch Diddy steigt, ziemlich panisch geworden, auf offener Strecke aus. Im schwachen Lichtkreis vor der Lokomotive sieht er einen Gleisarbeiter, der dort wohl arbeitet, um ein Hindernis auf den Schienen zu beseitigen. Diddy will fragen, doch er wird grob abgewiesen, Manager gegen Arbeiter, das geht nicht gut aus, es gibt ein Wortgefecht, dann Streit, Diddy findet eine Schlagwaffe, haut zu und verschwindet. Der Zug fährt weiter, ob er den Mann getötet hat, weiß er nicht. Das verschwindet im Nebel der Erinnerungsfetzen, die ihn ständig quälen, während er durch die Duschvorhänge irrt, Fragen stellt, über Realität, Tod und Leben monologisiert, während seine Mitstreiter in den Ganglien-Kammern unter der Kamera Arbeiten verrichten, basteln oder scheinbar nervös hantieren.
Wer in den zwei Stunden ein Handlung erwartet hat, hat sich geschnitten, wer versucht, den Facetten aus Diddys Gehirn zu folgen, wird versagen. Greb inszeniert die Essenz eines Romans, der selbst schon als surreale Matrize für die Tatsachenbehauptung des Dinglichen um uns herum dient. In Moers geht es nur noch um die Verhandlung des Tatsächlichen jenseits der Realität, es geht um den Tod, die Spekulation des Folgenden, aber erst einmal um den Schwebezustand zwischen dem Hier und Dort. Im kleinen Theater mit seinen ausgezeichneten Schauspielern findet Greb Bilder, die an Charles Wilps Afri-Cola-Werbung erinnern, die in genau der Zeit entstanden wie Susan Sonntags Roman. Auch hier wird das Rauschhafte zur Metapher von nicht greifbarer Bedeutung. „Jeder bekommt das Leben, das er sich wünscht“ heißt es da. Da kommt der Zuschauer schon ins Schlucken, denn dies würde zumindest die bewusste Selbstbestimmtheit des Lebens ausschalten, und der fast greifbare folgende Zustand zu vieler Zweifel an der Realität macht eben Angst.
Auf der Bühne scheint der Mensch Dalton Harron eigentlich im Krankenhaus zu liegen. „Leerer Raum wölbt sich zwischen den Dingen. Alles Zerfall.“ Ist er schon tot? Zumindest die durchscheinenden Vorhänge hat er abgeräumt, die Utensilien verstaut. Er trifft das blinde Mädchen Hester. In einer Welt vor dieser Welt hat es mit ihm im Zugabteil gesessen, Hester behauptet nun, dass er damals nie ausgestiegen sei. Selbst die Ebene der Kriminalistik kommt ins Wanken. Hester versucht, die Löcher in Diddys Realität zu stopfen. Die beiden werden ein Paar, haben dank Hester schnell auch Sex, doch pflegen sie eher eine philosophisch-dialogische Beziehung, deren Authentizität natürlich auch im Dunkel bleibt. Hesters Augen sollen operiert werden, das geht schief, kein Wunder, als Blinde sieht sie mehr, als die Sehenden je erblicken werden.
Am Ende ist niemand auf der sicheren Seite, nicht die Protagonisten, nicht einmal die Zuschauer. Die Inszenierung schon gar nicht, und genau das hat Regisseur Greb so geplant, denn „Diddy geht weiter“. Schluss der Uraufführung. Den Rest des Satzes bei Susan Sonntag: „auf der Suche nach seinem Tode“ braucht niemand mehr.
„Todesstation“ I Sa 5.5., 19.30 Uhr I Schlosstheater Moers I02841 883 41 10
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