Es ist kein Geheimnis, dass der gesellschaftlich Stillstand – vulgo „lockdown" – ein Loch in das kulturelle Leben des Landes gerissen hat. Wie groß das war, zeigte sich beim Bermuda-Talk, der an den vergangenen zwei Sonntagen unterschiedliche Gäste aus Kultur und Politik versammelte. Beim ersten Mal seien innerhalb weniger Stunden alle 95 Plätze reserviert gewesen, sagen die Veranstalter, und auch die zweite Runde fand vor vollen Reihen statt. War die auftrittslose Zeit noch dominierendes Thema in der vorigen Talkrunde, schwelgten diesmal die Autoren Ulli Engelbrecht und Olly Oltersdorf in nostalgischen Erinnerungen. Vize-NRW-Landtagspräsidentin Carina Gödecke (SPD) verwies schließlich auf die Not von Schaustellern in kirmesfreien Zeiten, bevor Humorphysiker Aeneas Rooch sein neues Buch vorstellte.
Die Open-Air-Saison ist ein Segen für Veranstalter und Künstler, denn im Freien lassen sich Veranstaltungen auch mit Hygiene-Abstand durchführen. Das sei einer der Vorteile des Gartens der Rotunde, wo der Bermuda-Talk diese beiden Male stattgefunden hat, erklärte Bartkowski: „Um so eine Veranstaltung drinnen durchzuführen, da bräuchten wir das Schauspielhaus." Auch die Bühne am KAP, wo der Bermuda-Talk auch schon mal vor 400 Leuten stattgefunden hat, war keine Option. Das viele Laufpublikum wäre mit dem Gewissen nicht zu vereinbaren gewesen, so Bartkowski. Er fügte hinzu: „Die Leute waren hungrig", nach wenigen Stunden waren alle Anmeldungen voll und während der Veranstaltung war und wurde kein Stuhl leer – selbst während der Regenschauer nicht.
Vergangenen Sonntag war das Wetter beständiger; Sonnenschein sorgte für angenehme Biergartenatmosphäre. Die Talkgäste der letzten Woche, etwa die Komödianten Esther Münch und Helmut Sanftenschneider, haben normalerweise jeweils über 200 Auftritte pro Jahr. Da kann man sich vorstellen, was für einen Verdienstausfall die letzten Wochen für sie bedeutet haben. Diese Woche erinnerte die SPD-Landtagabgeordnete Carina Gödecke daran, dass es nicht nur die Künstler, sondern auch all die Mitarbeiter in Bühnentechnik und Verwaltung sind, die sich in einer schwierigen Situation befinden. Besonders hob sie daneben Schausteller und ihre Familien hervor. Die Volksfeste zu Ostern sind dieses Jahr ausgefallen, Großveranstaltungen bleiben bis Ende August untersagt. Das bedeutet keine Cranger Kirmes, keine Kirmes am Rhein in Düsseldorf. Für viele Schausteller ist das der Ruin.
In Bochum gibt es immerhin eine Mini-Kirmes in der die Schausteller ihren Umsatz über Null heben können. Gödecke ermunterte das Publikum: „Auch mal gebrannte Mandeln kaufen, auch wenn man sie nicht so sehr mag, denn es unterstützt und hilft" – ohne zu beachten, dass bei vielen Menschen, dank Kurzarbeit und anderen Umsatzeinbußen das Geld selbst nicht so locker sitzt.
Politik kann nicht alle retten
Oliver Bartkowski hob im Gespräch mit dem trailer hervor, dass das Kulturbüro der Stadt Bochum die Kreativszene vorbildlich unterstütze. „Die Stadt kann jetzt aber auch kein Geld herbeizaubern", sagt er, und die Hygieneregeln des Landes außer Kraft zu setzen, liegt auch nicht in den Händen der Stadt. „Aber im Vergleich mit anderen Städten tut Bochum aktuell viel." SPD-Politikerin Gödecke lobte denn auch die Hilfe, die Bund und Länder für Künstler und Selbständige bereitstellen, aber „es geht alles zu langsam". Das kann man als Kritik der Opposition an der Regierung sehen oder – wie Moderator Michael Wurst mehrfach betonte – als Blick über den Partei-Tellerrand. Ausgesprochen deutlich sagte Carina Gödecke schließlich: „Wir werden nicht alle retten können." Über diese doch ernüchternde, aber doch realistische Aussage wurde im Gespräch aber schnell hinweggegangen. Im Talk und in vielen Gesprächen in den vergangenen Wochen hat Oliver Bartkowski aber erfahren: „Die Szene lebt und pulsiert und kämpft!" Es sei ermutigend, zu sehen, wie die Kreativen in der Region nicht den Kopf hängen lassen, sondern neue Wege finden oder auch das Gespräch mit der Politik suchen.
„Es liegt einiges im Argen", fuhr Bartkowski im Gespräch mit dem trailer fort. Das ließe sich nicht wegdiskutieren. „Die Kulturschaffenden waren die ersten, die nichts machen durften, und werden die letzten sein, die es dürfen." Aber insgesamt gebe es den Willen und die Kraft, etwas zu tun. So fiel die Veröffentlichung des zweiten Buches von Aeneas Rooch, „Mein wasserdichtes Baby", auf den Tag, an dem die Kindergärten geschlossen wurden. Promo-Lesungen in Kitas fielen damit flach. Wie so viele Autoren und andere Künstler weicht Rooch dann auch auf Online-Formate aus und hofft, dass er übers Netz ebenfalls vielen Menschen physikalische Phänomene des Alltags erklären kann. Auf der Bermuda-Talk-Bühne jedenfalls kam seine selbstironische Art gut rüber.
Die Krise spielte indes bei den übrigen beiden Gästen des letzten Talks kaum eine Rolle. Ulli Engelbrecht und Dirk „Olly" Oltersdorf reisten mit den Moderatoren in die Vergangenheit. In die 70er-Jahre, als Ulli Engelbrecht die Band Ton Steine Scherben in Bochum-Querenburg hat spielen sehen und ein Open-Air-Festival mit UFO als Headliner die Ruhrwiesen mangels Toiletten nachhaltig mit Nitrat gedüngt hat. Passend dazu erzählte Olly Oltersdorf, dass er in seiner Zeit als Werbetexter einen Mobilklohersteller den folgenden Slogan vorgestellt hatte: „Wenn's um die Wurst geht." Als Mann des Texthandwerks ließ er sich aber doch kurz dazu hinreißen, die mediale Berichterstattung über das Coronavirus als unnötige Panikmache zu tadeln.
Der nächste Bermuda-Talk findet am 16. August um 16 Uhr wieder in der Rotunde in Bochum statt. Der Eintritt ist frei; um Anmeldung wird gebeten unter karten@rotunde-bochum.de
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