Der Himmel machte heute erneut keinen besonders guten Eindruck, doch es war wenigstens wärmer als gestern und der Regen blieb aus. Noch mehr Besucher kamen als am Vortag und die Stimmung schien etwas geladener zu sein. Hier und da lag Exzess in der Luft und an manchen Stellen lag Exzess bereits am Boden.
Gegen 19 Uhr stand ich wieder an der trailer-Wortschatzbühne, versunken im vorbeiziehenden Fluss der Kulturen und Subkulturen. Während es gestern noch die Vielfalt der Charaktere und Atmosphäre war, die mich begeisterte, war es heute die schlichte Masse an Menschen, die sich langsam auf der Straße fortbewegte und die mich in eine leicht melancholische Stimmung zu versetzen schien. Ich ahnte warum, doch wurden meine Gedanken von einer wirklich wunderbaren Stimme unterbrochen, die sich, ohne kitschig klingen zu wollen, wie ein dämpfendes Tuch im Umkreis auslegte. Es ging nicht nur mir so, denn viele Leute blieben nach und nach stehen, lauschten, setzten sich oder lehnten sich an eine Wand, um ein wenig in Ruhe zu tanken.
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Es war die Stimme von Franzi Rockzz, die mit ihrer Band die trailer-Wortschatzbühne eröffnete. Ihr an Patti Smith erinnernder Stil, verlieh der Atmosphäre etwas Magisches und das im wahrsten Sinne, denn plötzlich brach zudem der Himmel auf und die Sonne strahlte fortan auf Bühne und Besucher. Die halbe Stunde war leider zu schnell vorbei. Sie genügte jedoch, um mich hinreichend zu erden. Wieder einmal Mal positiv überrascht, war ich nun zurück im Stimmungshoch.
Für mich hieß es jetzt warten und zwar auf Kabarettist Matthias Reuter. Vielen bekannt, u.a. durchs Radio und berüchtigt wie bewundert für sein gewieftes Kabarett mit Klavier-Einlagen. Ich vertrieb mir die verbleibende Zeit mit den Einstellungen meiner Kamera, bis der gebürtige Oberhausener, der außerdem Germanistik, Geschichte und Philosophie studiert hat, um 20.15 Uhr die trailer-Wortschatzbühne betrat.
Unter dem Motto „Auswärts denken mit Getränken“, sollte es sehr rasant und lustig werden. Doch Reuter zeigte sich natürlich auch als Meister zynisch-doppeldeutiger Provokation und politischer wie sozialer Satire. Die Besucherzahlen stiegen indessen an.
Nach einer kurzen Begrüßung haute er unmittelbar gekonnt in die Tasten seines Keyboards. Unter musikalischem Geleit erklärte er die Thematik: Er sei natürlich noch pädagogisch ambitioniert, was der folgende Song nun beweisen sollte, der ein anarchisches Kita-Chaos á la Reuter zum Thema hatte. Hier schlug z.B. Paul Sofie den Stuhl in den Rücken und dass die Großen die Kleinen unterdrücken, machte für die anwesenden Erzieher zudem pädagogischen Sinn. „Die spielen doch nur EU“, hieß es wiederholt im Refrain. Bewusst seien hier nur „normale“ Namen verwendet worden, anstelle klischeebehafteter Kevins und Justins. Mir fiel ein Stein von Herzen, während ich Reuters exzellentes Klavierspiel beobachtete. Endlich jemand der begreift, wo der eigentliche Trash zu finden ist.
Es folgte jetzt das nach seinen Angaben erste richtige Stimmungslied, das Reuter je geschrieben hat. „Urbayrisch“ wäre das, wie er lakonisch und leicht bösartig vermerkte und sich seinem thematischen Schwerpunkt annährete: „Der Mensch will immer etwas sein, was er nicht ist.“ Warum sonst gäbe es im Ruhrgebiet, speziell in Oberhausen, inzwischen zehn Oktoberfeste, während es selbst in München nur ein einziges gibt? Man könne hier glatt vor der Bühne ein blau-weißes Zelt aufbauen und einen Ochsen anzünden – was man halt so macht. Saufen könne man im Ruhrgebiet natürlich auch wie die Bayern. Fazit: „Wenn ihr schreit Mia san mia, dann schreien wir zurück: Mia auch!“. Unvergessen bleiben diese Antwortrufe des Publikums.
Das Konzert war zwar kurzweilig, dafür umso intensiver. Reuter konnte in rasendem Tempo alle Besucher auf seine Seite ziehen. Jeder hatte zudem auch selbst mit zu denken. Ein permanenter Switch zwischen Gesang, Erzählung und Zuschauerinteraktion, untermalt von ebenso stilvollen wie, wenn nötig, krachenden Klaviereinlagen. Seine Melodien und Texte waren zumeist Abstraktionen bekannter volkstümlicher Lieder, z.B. Weihnachts- oder Kinderlieder. Seine Anekdoten und Themen waren häufig auf das Ruhrgebiet zugeschnitten. Reuter zeigte sich somit als Lokalpatriot, doch auch als spitzfindiger Kritiker, der seine Zuschauer mit ihren eigenen Waffen schlägt und die menschliche Doppelmoral gnadenlos aufdeckt.
Weitere Infos: www.bochum-total.de
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