Bis auf den letzten Platz war der Abend zur Erinnerungskultur in Argentinien im Fritz-Bauer-Forum in Bochum besetzt. Überrascht und erfreut über das große Interesse zeigte sich Irmtrud Wojak, Gründerin und Leiterin des Forums, bei ihrer Begrüßungsrede. Es zeige, dass das Interesse an Erinnerungskultur doch noch bestehe.
„Die Demokratie muss gelegentlich in Blut gebadet werden, damit sie fortbestehen kann.“ Mit diesem provokanten Zitat des chilenischen Diktators Augusto Pinochet eröffnete Pedro Crovetto, Exilchilene und Menschenrechtsaktivist, den Themenabend. Er erinnerte an die parallelen Taktiken der Militärdiktaturen in Chile und Argentinien. „Pinochets Zitat ist kein Relikt der Vergangenheit“, so Crovetto. „Es spiegelt sich heute in der Rhetorik jener, die Opferzahlen relativieren oder die Aufarbeitung der ‚Desaparecidos‘ (Verschwundenen) als ‚Störung des nationalen Friedens‘ diffamieren.“
Angst vor der Wahrheit
Zeitzeuge Germán Wiener, Exil-Argentinier, schilderte sichtlich betroffen, wie rechtspopulistische Kräfte in Argentinien derzeit Gedenkstätten wie die ESMA zerstören. Das ehemalige Folterzentrum der Junta ist heute eine Gedenkstätte – doch unter Präsident Javier Milei wurde dem Personal per E-Mail gekündigt. „Mileis Regierung tilgt systematisch die Erinnerung.“ Er erwähnte auch das legendäre Buch „Nunca Más“ des argentinischen Schriftstellers Ernesto Sábato, das die Gräuel der Diktatur dokumentiert. „Eine aktualisierte Version, die heutige Menschenrechtsverbrechen einbezieht, ist längst überfällig.“ „Doch Milei blockiert sie – aus Angst vor der Wahrheit.“
Die argentinische Juristin Valeria Vegh Weis, Expertin für Transitional Justice und aus Buenos Aires per Video zugeschaltet, analysierte die Rolle internationaler Gerichte. „Die Straflosigkeit von gestern ist die Waffe von heute.“ Mileis’ Angriffe auf die ESMA seien kein Zufall, „sie zielen darauf ab, die Beweise für staatlichen Terror zu vernichten.“ Vegh Weis verwies auf die historische Bedeutung der ESMA als Archiv des Widerstands: „Jedes Dokument, das dort lagert, ist ein Puzzleteil der Wahrheit.“
An der Zensur vorbei
In den 1970er- und 1980er-Jahren nutzten Oppositionelle die sogenannte „Ping-Pong-Strategie“: Informationen über Menschenrechtsverbrechen wurden an Exil-Netzwerke in Europa weitergegeben, die diese Informationen über Medien wie Monde Diplomatique international verbreiteten. „Ohne diese transnationale Solidarität hätten die Verbrechen der Junta nie solchen Druck aufgebaut.“ In Argentinien zensierte Dokumente seien so auf Umwegen an Gerichte in Madrid oder Den Haag gelangt. Doch heute, unter Präsident Javier Milei, seit 2023 im Amt, werde diese Arbeit systematisch zerstört. „Milei hat personelle Ressourcen und finanzielle Mittel zum Erhalt der Erinnerungskultur gekürzt oder ganz gestrichen.“
Die Ping-Pong-Strategie funktioniere nicht mehr effektiv. Digitale Desinformation und staatliche Zensur erschwerten die Aufklärung. Europa könne hier zwar faktenbasiert gegensteuern, doch fehlten koordinierte Maßnahmen, um die „neuen“ Propagandamechanismen zu brechen.
Kriminalisierung der Zivilgesellschaft
Unter Milei wurden nicht nur die finanziellen Mittel für Gedenkstätten gestrichen, sondern auch NGOs kriminalisiert wie die Abuelas Plaza de Mayo („Großmütter der Plaza de Mayo“, benannt nach dem an die Revolution von 1810 erinnernden Mai-Platz). Die argentinische Menschenrechtsorganisation wurde 1977 während Militärdiktatur gegründet. Ihr Ziel ist es, die rund 500 Kinder zu finden, die während der Diktatur systematisch entführt und an regierungsnahe Familien zur Adoption gegeben wurden. Viele dieser Kinder wurden in Haftzentren geboren, wo ihre Mütter, oft politische Gefangene, gefoltert und ermordet wurden. Durch DNA-Tests und internationale Vernetzung konnten bisher 139 Identitäten wiederhergestellt werden. Doch heute werden die „Abuelas“ von rechten Gruppierungen wie der von Javier Milei gegründeten Stiftung FARO als „Mörderinnen“ diffamiert.
Recht auf Identität
Belén Estefania Altamirando Taranto, auch sie aus Argentinien zugeschaltet, ist Vorsitzende der Abuelas de Córdoba, einer Zweigstelle der „Großmütter“. Erst als Erwachsene erfuhr sie von ihrer wahren Identität. Sie wurde im Juni 1977 während der Gefangenschaft ihrer Mutter in einem Militärkrankenhaus geboren und an eine christliche Familienbewegung übergeben, die sie zur Adoption freigab. Im Jahr 2005 beschloss sie, sich auf die Suche nach ihrer Herkunft zu machen, und meldete sich freiwillig bei den „Großmüttern“. 2006 nahm sich die Nationale Kommission für das Recht auf Identität (Conadi) ihres Falles an und ordnete DNA-Tests an. Im Juni 2007 teilte die nationale Datenbank für genetische Daten ihre wahre Herkunft mit. „Für mich war das ein Schock.“ Ich habe meine Adoptiveltern geliebt. „Ich wusste nichts davon und plötzlich musste ich feststellen, dass ich von Menschen großgezogen worden bin, die meine Eltern ins Gefängnis gebracht haben.“ Seitdem engagiert sie sich, damit noch mehr Kinder wiedergefunden werden. „Wer die Erinnerung tilgt, macht die Opfer ein zweites Mal zu Opfern“.
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