Alle Jahre wieder steht Bochum für vier Tage still, könnte man meinen. Stünden da nicht auf einmal sechs Bühnen, rund ums Bermuda3eck und zudem etliche Bierstände, Buden und Zelte bereit. Wären da nicht plötzlich die vielen kunterbunten Menschentrauben, bald schon nicht mehr überschaubar. Es ist wieder soweit, weiß man als Bochumer; es ist Bochum Total.
Auch im ganzen Ruhrgebiet wussten allein im letzten Jahr über 400.000 Besucher, wo sie sein wollten. Eine Wahnsinnszahl, wenn man bedenkt, dass sich das Festival mitten in der Stadt abspielt.
Hätte, wäre, könnte – der Konjunktiv spielt bei Bochum Total generell eine Rolle. Was würde ich mir gerne ansehen? Ein abwechslungsreiches Ensemble erstklassiger Musik-Acts und Performer, 2016 sind es 75 Acts, nehmen das Mikro in die Hand. Künstlerische Freiheit wird seit jeher groß geschrieben, nur eigen soll es sein und echt. Der wilde Genre-Mix aus bereits etablierten und aufstrebenden Künstlern, macht die Entscheidung schwer. Was, wenn ich mich also einfach Treiben lassen würde, mit offenen Augen und Ohren.
Indikativ: Es dämmert und ich stehe mit meiner Kamera, unter bedrohlich grauem Himmel, vor der trailer-Wortschatzbühne. Hier hat Autor Oliver Uschmann gerade aus seinem Buch „Krallen rein! Über das wahre Leben mit Katzen“ gelesen und auf irrwitzige Weise den „Katzenwirkungsquotienten“ ermittelt. „Alles echte Wissenschaft“, sagt er zum Schluss und ich frage mich, welche Rolle wohl der mehrfach erwähnte Thomas Gottschalk hier gespielt hat, oder hatte ich mir das eingebildet? Der wandernde Pool aus Kultur und Subkultur, muss mir an einer wichtigen Stelle die Sinne geraubt haben und zieht mich nun schon wieder in seinen Bann. Wohin, also jetzt? Jupiter Jones oder doch eher Mr. Irish Bastard? Es beginnt zu nieseln.
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Vom Konrad-Adenauer-Platz ertönt a cappella „Bochum ich komm aus dir“ durchs Mikro, definitiv nicht von Grönemeyer und nichts Besonderes. Eher platt, denke ich mir. Doch halt! Ich höre gar keinen Mob der lautstark miteinsteigt, was ist da los? Ich bewege mich zügig 100 Meter in Richtung Schauspielhaus zur Sparkassenbühne. Ich höre ein weiteres „Bochum, ich komm aus dir“, dann Stille, gefolgt von „OK, das war zu eindeutig“.
Ich biege um die Ecke und sehe einen kernigen, kurzhaarigen Typen in Jeanshemd und Baggy, eher an einen Rapper erinnernd. Um ihn macht sich jedoch eine sechsköpfige Band bereit, die nach echtem Rock ‘n‘ Roll aussieht. Sie bewegen sich zwischen mindestens fünf verschiedenen Gitarren, einem Schlagzeug, mehreren Mikros, einem Keyboard und zwei Saxophonen. Der Fall Böse, stellt Sänger „Burns“ die Band vor, ist aus St. Pauli angereist und nach 20 Jahren Bandgeschichte heute zum ersten Mal in Bochum. Vielleicht doch sympathisch, aber hoffentlich passt das auch, ich bin noch ein wenig skeptisch.
Hierzu eine kleine Retrospektive: Der Begriff Crossover prägte in den 1940 Jahren die musikalische Trennung von Musikstilen. Heute wird er dazu verwendet, stilistische Fusionen zu beschreiben, besonders im Hinblick auf Rock und Hip Hop. Die Nu-Metal-Ära, geprägt von Bands wie Linkin Park oder Limp Bizkit, sanierte den Begriff in den 1990ern. Aus hartem Gitarrensound, Shouting und Rap wurde damals ein neuer Stil kreiert, der sich jedoch nie wirklich innerhalb der deutschen Musikstile durchsetzen konnte. Deutscher Crossover sei nicht möglich, wurde gar behauptet. Es ist sehr wohl möglich, wie sich heute zeigt.
Der Fall Böse beginnen das Konzert mit lockeren Rhythmen, die mit Groove, aber nicht zu soft in mein Ohr dringen. Der Sound kommt sauber und stimmig beim Publikum an. Er erinnert mich entfernt an einen AC/DC-Remix im Hip Hop-Stil, wäre da nicht diese Fülle an Klängen verschiedenster Instrumente, bei denen glücklicherweise kein DJ seine Hände im Spiel hat. Eine Gruppe erstklassiger Musiker, die ihren Stil bis ins Letzte verinnerlicht hat. Sänger Burns entpuppt sich als Typ mit dem gewissen Etwas: Ein charismatischer Sänger, der schnelle Rap-Einlagen ebenso problemlos beherrscht wie rauchigen Gesang und sich zudem als echter Spaßvogel zeigt. Als das Konzert kurzweilig von einem grölenden Fußballfan in der ersten Reihe unterbrochen wird, tauscht er kurzerhand Mikro gegen Bier. Bochum Total vom Feinsten.
Das Konzert nimmt Fahrt auf und trotz des diesigen Wetters, füllt sich der Platz nun flott. Ich beobachte wie die Beats, gepaart mit rasanten Tempowechseln, von den herumstehenden Menschen Besitz ergreifen und sie zur Bewegung zwingen. Mich eingeschlossen. Präsentiert werden u.a. Songs des neuen Böse-Albums „Phönix-Baby“, die allesamt Frauennamen zum Titel haben, wie Burns zu verstehen gibt, als er augenzwinkernd den Song „Motte“ ankündigt. Zeilen wie „Der ganze Scheiß muss raus, aus den Herzen, aus den Köpfen auch“ oder „Wir werden nie wieder schlafen, den Tod verspotten, das Leben verlachen“, laden die Stimmung weiter auf.
Die musikalische Leistung der Band vermittelt das Gefühl, dass hier einfach alle alles können. Da wird der Keyboarder zum Gitarristen oder der Mann am Saxophon steht plötzlich als Sänger am Mikro, während sich Burns ein Bierchen gönnt. „Alles oder nichts. Alles ohne mich. Das ist hundsgemein.“, wie es dazu treffend im Duett heißt. Eingefleischte Fans gehen jetzt richtig ab. Burns kommentiert grinsend mit „Ihr Arschlöcher!“ und niemand denkt mehr an „Bochum ich komm aus Dir“. Nach vier Zugaben bedanken sich Der Fall Böse mit den Worten „Danke, ihr wart sehr tapfer“.
Fazit: Ein bemerkenswerter Auftritt der Hamburger. Tanzbar und nicht zu poppig. Modern, doch der alten Schule verpflichtet. Das ist Rock der Rap trifft; der Blues trifft; der Punk trifft; der Jazz trifft – das ist deutscher Crossover mit Stil. Und das ist Bochum Total: Echt und eigen. Überraschend und überzeugend.
Weitere Infos: www.bochum-total.de
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