Tief muss dafür Luft geholt werden. Denn erst werden die Klagelaute angestimmt: „Oioioioi“, so soll das klagende Ächzen in der Antike geklungen haben. Und heute im Ruhrgebiet: „Boah ey!“ Oder: „Himmerlarschundzwirn!“ Dass das Beklagen eine echte Kunstfertigkeit sein kann, das demonstrierten die beiden Performance-KünstlerInnen Katharina und Anna-Lena Klapdor. „Mehr Jammer, weniger meckern“, so das Motto ihres Workshops im Rahmen des Trainee-Programms der „Coop 3000“-Hauptversammlung.
Solidarität soll in diesem neuen Konzern akkumuliert werden. Und wie geht das besser als durch gemeinsames Jammern von unten: „Wo geschieht heute gemeinsames Klagen?“, fragte Anna-Lena Klapdor. Dabei gibt es soviel, worüber sich zu beschweren gibt – und auch die Workshop-Teilnehmenden müssen nicht lange überlegen: Dass die AfD Stimmen bekommt. Dass die Mieten zu hoch sind. Dass wir die Erde zerstören.
Ausgrabung nach altem Kampfbegriff
So gerät der Auftakt dieser „neosolidarischen Concerngründung“ zu einer lauten Chorprobe. Dabei hat diese „Hauptversammlung“, wie die OrganisatorInnen und KünstlerInnen das viertägige, gemeinsam mit Urbane Künste Ruhr entstandene, Festival „Coop 3000“ bezeichnen, eher etwas von einer anstrengenden Ausgrabung nach einem längst vergessen Kampfbegriff der ArbeiterInnenbewegung: Solidarität – das klingt nach einer nostalgischen Wette, die unter den neoliberalen Diskursschichten, den Gewerkschaftszerschlagungen einer Thatcher oder dem Sozialkahlschlagsprogramm der Agenda 2010 irgendwann verloren gegangen ist. „Wenn seit drei Jahrzehnten das neoliberale System vorherrschend ist, dann müssen wir überlegen, was wir dagegen setzen können“, sagt Jörg Lukas Matthaei von Coop 3000. Doch gerade dieser praktischer Teil gestaltet sich schwierig: „Was heißt das im Alltag, wie kann das gelebt werden?“, so Matthaei über den Begriff der Neosolidarität. „Man muss das konkret mit Handlungen füllen.“
Wandel der ArbeiterInnenstädte
Denn die einstigen Hochburgen der ArbeiterInnenklasse haben haben sich drastisch gewandelt, anstelle von Solidarität ist oft Vereinzelung und Resignation getreten. Nicht nur in Teilen des Ruhrgebiets, sondern auch in Städten wie Glasgow. Das zeigt zumindest der Film „Tomorrow is always too long“. Der Filmemacher Phil Collins verknüpft darin eine Bildercollage über die Menschen in der schottischen Metropole mit medienkritischen Reflexionen über den Fernsehterror, schicken Schwarz-Weiß-Animationen und poppigen Musical-Elementen zu einer Liebeserklärung an die ArbeiterInnenstadt Glasgow.
Die Suche nach einem neuen Solidaritätsbegriff wird in den nächsten Tagen an der Rottstraße 5 (der „Concernzentrale“) und anderen Orten in Bochum weiterbetrieben. Um Möglichkeiten danach zu suchen, kommen bei der Hauptversammlung in den nächsten Tagen verschiedene „AnteilseignerInnen“ zusammen: Es gibt Workshops, Filmvorführungen, Vorträge, gemeinsames Kochen und natürlich sehr viel Spekulation auf Solidarität.
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