trailer: Herr Dr. Hoffmann, Deutschland hat einen Heimatminister. Haben Sie das vorausgesehen?
Frank Hoffmann: Man könnte eher sagen, ich habe Horst Seehofer diese Idee gegeben. Mein Verständnis von Heimat ist allerdings etwas tiefschichtiger. Wie wir zu unserer Wahrnehmung von Heimat kommen, ist ein Prozess, der für jeden Menschen anders, der aber wesentlich für das Leben ist. Es gibt ja dieses schöne Wort Heimat nicht in jeder Sprache. Und ich denke, wir sollten es auch den Populisten aus dem Mund nehmen und es dahin führen, wohin Ernst Bloch es eigentlich führen wollte, nämlich Heimat als die Verbindung von Gegensätzen.
Ist da ein Unterschied zwischen Heimat und Identität?
Es gibt sicher einen Unterschied. Die Identität ist etwas, das meiner Meinung nach nochmal persönlicher ist als der Begriff Heimat. Und sie ist nicht an einen Ort gebunden oder an eine Familie, denn in diesem Umfeld bewegt sich ja der Begriff Heimat. Identität geht da vielleicht auch etwas weiter nach innen, doch ich glaube, auch Identität kann ein sehr gefährlicher Begriff werden, wenn man das als etwas Reduktionistisches begreift. Identität ist ja nicht etwas, was man einmal hat, sondern die erarbeitet man sich ja auch erst einmal.
Der Steinkohlebergbau hat die Region geprägt. Maloche als Identität – ist das nicht eigentlich eine Geißel?
Maloche ist mit Sicherheit auch eine Geißelung. Dennoch wird der Begriff heute sehr positiv konnotiert. Der Begriff der Maloche hat sich im Laufe der Jahrzehnte doch erstaunlich gewandelt – was früher als Fronarbeit galt, gilt heute als Qualität. Ich kann aber verstehen, dass das Wort in früheren Jahren etwas sehr Belastendes bedeutete, vor allem für den kleinen Mann im Ruhrgebiet.
Sie inszenieren bei den Ruhrfestspielen Dürrenmatts „Der Besuch der alten Dame“. Ist diese Form von Heimat nicht eigentlich verbrannt?
Nein, überhaupt nicht. Güllen, das sind die Vergessenen, die „laissé-pour-compte“, wie man im Französischen sagt, an die keiner mehr denkt, die irgendwo in der Provinz, in einer Kleinstadt vor sich hin vegetieren und alle Hoffnung verloren haben. Und wenn die alte Dame kommt, trauen sie auch erstmal ihren Augen nicht, nehmen das eigentlich gar nicht wahr, dass sie gekommen ist. Ich glaube, hier auch mit dem gängigen Begriff Heimat zu operieren und ihn leichtfertig als etwas Ruhiges, in ruhigem Fahrwasser Lebendes, als eine lebende Gemeinschaft zu begreifen, wäre völlig falsch. „Der Besuch der alten Dame“ beschreibt ja eher eine Situation, wie sie in Shanghai passiert. Da wird von heute auf morgen ein ganzes Stadtviertel abgerissen, quasi in mehreren Stunden durch Bulldozer, und dann wird dort ein ganz neues Ambiente gepflanzt. Ich finde Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“ ist ein total aktuelles Stück. Wie alle großen Werke, und ich merke immer mehr, dass es eines der großen Stücke der modernen Literatur ist, die alle diese Deutungen überleben, die wir uns von diesen Werken machen. Ich habe eine Deutung gefunden, die sehr in unsere Zeit passt. Aber ich finde nicht, dass das Stück irgendetwas Verbranntes hat.
„Die verlorene Oper. Ruhrepos“, das avantgardistische Projekt von Bertolt Brecht und Kurt Weill aus den 1920er Jahren, das nie realisiert wurde, ist die Zeit jetzt reif dafür?
So könnte man das sagen. Der Antisemitismus der 1920er Jahre hat ja verhindert, dass das Werk das Licht der Welt gesehen hat. Jetzt versucht Albert Ostermaier mit seinem Regisseur Thorleifur Örn Arnarsson es in Recklinghausen auf die Bühne zu bringen. Aber natürlich nicht das Werk von Bertolt Brecht, das ist ja verschollen. Das ist nie so geschrieben worden und ging auch in Teilen wohl in der Dreigroschenoper auf. Was Ostermaier möchte, ist eine Art Vision für die Zukunft des Ruhrgebiets zu entwickeln. Das klingt jetzt erst einmal sehr, sehr groß. Aber ich denke, es ist sehr spannend, dass er auf eine Epoche zurückgreift, die so essentiell für das Ruhrgebiet war. In dieser Epoche war das Ruhrgebiet nicht Ort der Abgehängten, sondern war im Gegenteil der industrielle Motor Europas. Und Brecht, Weill und Carl Koch, der Bühnenbildner, die kamen da hin, um diese Zukunft zu erleben. Ich finde diese Setzung, die Ostermaier versucht, Ruhrgebiet als Zukunft, als Utopie zu denken, grandios. Zumindest in der Kunst, ob es dann auch für Wirklichkeit wirkt und fruchtet, darüber müssen dann andere entscheiden und was dafür tun.
Und wie passt da noch Hollywood in die Ruhrfestspiele?
Ja, Hollywood ist ja auch nur ein Dorf. Aber in diesem Dorf sind sehr oft die besten Schauspieler der Welt.
Und das Fringe Festival?
Das Fringe Festival ist das Kind dieser Mutter Ruhrfestspiele, und das muss man hegen und pflegen. Das lebt ja, das hat mittlerweile um die 14.000 Zuschauer. Die Leute sind gierig danach, die sehen dort Theaterformen, die sie sonst in Deutschland in keinem anderen großen Festival sehen. Es gibt in NRW auch das Impulse Festival und andere, aber dies hier ist schon etwas sehr Besonderes. Ich glaube an das Fringe Festival. Die Menschen wollen das, und ich finde, das ist auch für das Ruhrgebiet Zukunft.
Zum Abschluss eher leise Töne von Leslie Clio und 2Raumwohnung, kein Feuerwerk?
Doch auch das. Wir haben ja bei dem Abschlusskonzert immer mal wieder sehr große Namen im Programm gehabt, Scorpions,die Fantastischen Vier, Gianna Nannini, BAP und wir haben auch neuere Gruppen präsentiert wie beispielsweise Wanda. Ich denke, Leslie Clio und 2Raumwohnung sind ein bisschen dazwischen. Das ist eine gute Mischung und die passen wunderbar zu den Ruhrfestspielen. Nach dem Doppelkonzert gibt es ein riesengroßes Feuerwerk, das von unserem Bühnenmeister gemacht wird. Das wird ein schöner Abschlussabend, der am Sonntag auch nochmal weitergehen wird.
Und wie viel Wehmut steckt in der letzten Spielzeit auf dem grünen Hügel?
Unendlich viel.
Ruhrfestspiele | 1.5. - 17.6. | Festspielhaus Recklinghausen | www.ruhrfestspiele.de
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