Um uns herum wird es martialischer. Nicht nur wegen einer latent immanenten Sprengfalle im Leben des Normalbürgers. Selbst an den städtischen Theaterbühnen im deutschsprachigen Raum hat das gewalttätige Adjektiv Einzug gehalten. Denn dort droht „Die Vernichtung“, da sind „Mädchen in Not“, alle haben „Wut“, selbst auf die „Vereinten Nationen“ oder das alte „Empire“. Wir müssen endlich loslegen und „Europa verteidigen“, und da hilft nur noch „der thermale widerstand“. Dies sind keine der modernen Fake-News, sondern scheinbar alternative Theaterfakten. Das sind die Titel der diesjährigen „Stücke“ in Mülheim an der Ruhr, und das ist immerhin neben dem Heidelberger Stückemarkt vielleicht eines der wichtigsten Festivals im alten Europa. Und im Ruhrgebiet geht es bekanntlich seit 1976 immer um viel Kohle. Sieben bis acht Stücke in der wirksamsten Aufführung werden dort bei den Theatertagen gezeigt. Die jurierte Vorauswahl stammt aus den zeitnah uraufgeführten deutschsprachigen Stücken. Und die werden auch bewertet. Nicht der Regisseur und seine Inszenierung, sondern nur der Autor des besten Stückes erhält den mit 15.000 Euro dotierten „Mülheimer Dramatikerpreis“.
Worum geht es in 2017? Um Fake-News, um neuen Faschismus in der Türkei, um den neuen Nationalismus? Ja, darum geht es irgendwie, aber beispielsweise auch um Glück (Anne Lepper mit „Mädchen in Not“), um Mythologie (Konstantin Küspert in „Europa verteidigen“) oder eine mögliche Endzeit im Sommernachtstraum (Olga Bach in „Die Vernichtung“). Dort verlieren sich drei Menschen in Rauschzuständen, die sich aber schnell abnutzen. Das Bedürfnis wächst, es möge endlich etwas „Richtiges“ geschehen. Vielleicht ist es ja Rennen um den Mülheimer Dramatikerpreis, bei dem auch wieder (natürlich?) Elfriede Jelinek mitmischt. Die österreichische Nobelpreisträgerin hat sicher mit „Wut“ wieder das expressionistische Stück am Start, ob es wieder reicht, wird man sehen. Den Wutbürgern reicht es bestimmt, dieser Text und diese Frau sowieso.
Seit 2010 ist auch das Festival KinderStücke ein Wettbewerb um den heiß begehrten und mit 10.000 Euro auch recht üppig versüßten KinderStückePreis. Hier beklagte die Jury allerdings die „nicht besonders große Auswahl an qualitativ guten Stücken“. Das mag auch am Umgang der Stadttheater mit diesen Stoffen zu tun haben. Denn manche haben sich inhaltlich längst dem gesellschaftlichen Ist-Zustand angenähert, als Beispiel sei hier die Stückentwicklung von Georg Piller, Nadja Sieger und dem Ensemble des Berliner Grips Theaters besonders erwähnt. Auf der Bühne steht ein als Maus verkleideter Zauberer, der den Kindern erzählt, wie man glücklich wird. Doch dann taucht die verwahrloste Frau aus den Kulissen auf. Die Obdachlose, die hinter der Bühne einen vorübergehenden Zufluchtsort hat, hat eine etwas andere Sicht auf das Glück. Wenn Lebenstheorie auf Lebenspraxis trifft, dann geht das sogar mit humorvoller Leichtigkeit.
42. Mülheimer Theatertage NRW „Stücke 2017“ | 13.5.-3.6. | Mülheim an der Ruhr | 0208 96 09 60
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Soll das Werk den Meister loben
49. Mülheimer Theatertage – Prolog 05/24
And the winner is …
Auswahl der Mülheimer Theatertage – Theater in NRW 04/23
Schreiben fürs Hier und Jetzt
„Stücke 2022“ in Mühlheim an der Ruhr – Prolog 04/22
Schreiben für hier und heute
Die 41. Mülheimer Theatertage NRW „Stücke“ – Theater Ruhr 04/16
Ein zeitloser Albtraum
Franz Kafkas „Der Prozess“ im Bochumer Prinz Regent Theater – Prolog 12/24
„Vergangenheit in die Zukunft übertragen“
Regisseur Benjamin Abel Meirhaeghe über „Give up die alten Geister“ in Bochum – Premiere 12/24
Die Grenzen der Bewegung
„Danses Vagabondes“ von Louise Lecavalier in Düsseldorf – Tanz an der Ruhr 12/24
Stimme gegen das Patriarchat
„Tabak“ am Essener Grillo-Theater – Prolog 11/24
Freigelegte Urinstinkte
„Exposure“ auf PACT Zollverein in Essen – Prolog 11/24
Krieg und Identität
„Kim“ auf PACT Zollverein in Essen – Tanz an der Ruhr 11/24
„Ich glaube, Menschen sind alle Schwindelnde“
Regisseurin Shari Asha Crosson über „Schwindel“ am Theater Dortmund – Premiere 11/24
Liebe ist immer für alle da
„Same Love“ am Theater Gütersloh – Prolog 11/24
Bollwerk für die Fantasie
Weihnachtstheater zwischen Rhein und Wupper – Prolog 10/24
Mentale Grenzen überwinden
„Questions“ am Münsteraner Theater im Pumpenhaus – Prolog 10/24
Der Held im Schwarm
„Swimmy“ am Theater Oberhausen – Prolog 10/24
Torero und Testosteron
„Carmen“ am Aalto-Theater in Essen – Tanz an der Ruhr 10/24
„Hamlet ist eigentlich ein Hoffnungsschimmer“
Regisseurin Selen Kara über „Hamlet/Ophelia“ am Essener Grillo Theater – Premiere 10/24
„Was dieser Mozart gemacht hat, will ich auch machen“
Komponist Manfred Trojahn wird 75 Jahre alt – Interview 10/24
Das gab es noch nie
Urbanatix im Dezember wieder in Essen – Bühne 10/24
Das schöne Wesen aller Dinge
Festival Spielarten 2024 in NRW – Prolog 09/24
Die Zwänge der Familie
„Antigone“ in Duisburg – Prolog 09/24
Jenseits von Stereotypen
„We Love 2 Raqs“ in Dortmund – Tanz an der Ruhr 09/24
„Das Publikum braucht keine Wanderschuhe“
Intendant Ulrich Greb inszeniert „Ein Sommernachtstraum“ am Schlosstheater Moers – Premiere 09/24
Wüste des Vergessens
„Utopia“ am Theater Oberhausen – Prolog 09/24
Künstlerisches (Ver-)Lernen
Das Favoriten Festival 2024 in Dortmund – Prolog 08/24