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Foto: Martin Kaufhold

Einer muss das Opfer sein

28. November 2013

Franz Kafkas „Prozess“-Roman am Schauspiel Essen – Theater Ruhr 12/13

Das Gesetz ist eine Hülle ohne Inhalt. Es gibt kein Inneres, niemand jedenfalls scheint es zu kennen, sondern nur die reine Form. Sichtbar wird das Gesetz nur als Proklamation – so jedenfalls erfährt es der Mann, der bei Franz Kafka im „Dom-Kapitel“ seines „Prozess“-Romans vor dem Türhüter des Gesetzes erscheint. So ergeht es auch dem Protagonisten Josef K., der in Moritz Peters Essener Inszenierung die ganze Verhaftung völlig selbstverständlich hinnimmt, als normalen Verlauf der Dinge. Emotionslos, kühl, rational setzt Jörg Malchow seine Argumente und wirkt doch wie ein zufällig Gebrandmarkter. Die fünf Schauspieler rollen in heller, fast uniformer Kleidung durch einen Lichtschlitz herein auf die schräge Spielfläche. Es ist ein Spiel. Einer aus der Gruppe muss es schließlich sein, der dann sein Oberteil auszieht und darunter ein rotes Shirt des Opfers trägt.

Peters hat den Roman nicht vollständig in Dialoge aufgelöst, sondern verteilt auch zahlreiche epische Passagen auf die fünf Schauspieler. Um Individuation geht es dabei nicht, die Rollen wechseln fliegend. Der Abend zielt von Beginn an auf die Parabel. Das sagt nicht nur die mit Holzplatten belegte, abschüssige Spielfläche (Bühne: Lisa Marie Rohde), das sagt auch die völlig unpsychologische Spielweise. Wir sehen hier dem Theater als Bedeutungsapparat zu, der auf Hochtouren läuft – so wie wir bei Kafka dem Gesetzesapparat bei der Arbeit zuschauen. Die Wächter mit Sonnenbrille krümmen sich lachend bei K’s Verhaftung und legen sich später dem Aufseher wie Hunde zu Füßen, Fräulein Bürstner räkelt sich lasziv auf einem Pelzmantel, der Advokat im Daunenumhang rechtfertigt weitläufig den undurchschaubaren Fortgang des Prozesses, Leni hängt den Männern wie ein Klammeraffe auf dem Rücken. Die Schauspieler holen sich an den Seiten Kleidungsstücke, werfen sich ins agile Spiel. Das ist mal skurril, mal streift es den Slapstick. Doch der Abend ächzt unter seinem formalisierenden Zugriff, der die Schauspieler in ein festes Korsett einspannt und dadurch selbst frösteln lässt.

Der Schrecken der undurchschaubaren Maschinerie Gesetz bleibt eine Behauptung, genauso wie die Endlosketten der Gerichts-Zuständigkeiten. Emotionen erzeugt die Inszenierung kaum, selbst das laustarke Brüllen von K’s Onkel angesichts des Prozesses oder die Willkür des Advokaten gegenüber dem Kaufmann Block, der die abgeräumten Holzplatten der Schräge wie ein Sklave im Akkord hin- und hertragen muss, erzeugt keinerlei Mitgefühl. Jede Szene wirkt, als ob sie mit der gleichen ausgekühlten Intensität konzipiert wäre – mit Ausnahme von ein paar überflüssigen szenischen Gags, die allerdings nicht recht zünden wollen. Da lässt der Maler Titorelli ein paar Konfettibomben explodieren oder es schießen aufblasbare Bleistiftbeamte aus dem Bühnenboden. Wenn die Schräge aller Holzplatten entkleidet ist, turnen die Figuren nur noch behände über das rohe Eisengerüst – bis am Ende K. exekutiert wird. Eine Inszenierung, die sich Kafkas verunsicherndem Text mit allzu absichernden Mitteln nähert.

„Der Prozess“ | 9./15./24.1. 19.30 Uhr | Schauspiel Essen | 0201 812 22 00

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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