Sind es Streikaktionen, Sozialversicherungssysteme oder eine regelmäßig gepriesene Generationengerechtigkeit, wenn wir über Solidarität reden? Nein, ließe sich mit dem aktuellen Buch des Soziologen Heinz Bude behaupten. „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“, so der Titel, verwirft das vermeintliche Abo von Linken auf diesen Begriff.
Die Ambivalenz untermauert bereits die Eröffnungsfrage des Buchs: „Verhalte ich mich tatsächlich solidarisch, wenn ich in meinem Handwerksbetrieb mit vier Beschäftigten einen unbegleiteten Flüchtling aus Syrien als Auszubildenden einstelle?“ Um Antworten darauf zu geben, erschien zwar nicht der Autor Heinz Bude selbst. Allerdings lud das Medienforum des Bistums Essen die beiden Experten Thomas Holtbernd und Marcus Minten ein. Holtbernd moderiert seit über zwölf Jahren das „Philosophische Café“ in Essen. Marcus Minten ist in einer Wohneinrichtung für Menschen mit Behinderung sowie in der Jugend- und Erwachsenenbildung tätig.
Beim Auftakt der Reihe „Gravuren in der Zeit“ stellten beide am Donnerstagabend die Thesen des Hochschullehrers vor. Und diese betreffen auch die Einordnung des Begriffs in das linke Lager. „Bude sagt: Verabschiedet Euch davon“, meint Minten. Überhaupt entkoppelt der Soziologe den Begriff vom Kollektiv. Zu einschneidend waren in dieser Hinsicht die Folgen von 1989, als der Begriff der Solidarität auf das Nationale eingegrenzt wurde.
„Er scheint ein Gespür zu haben für das, was in der Gesellschaft los ist“, so Thomas Holtbernd. „Solidarität hat für ihn etwas mit einer menschlichen Zuschreibung zu tun. Es hat etwas damit zu tun, was ich mache und ist eben kein Element der Gesellschaft.“ Andernfalls wirke Solidarität exklusiv wie im aktuellen Fall China, wo moderne Technik die Leistungsbereitschaft für die Gesellschaft erfasst.
Auch Empathie kann laut Bude nicht als positive, ethische Kategorie aufgefasst werden, wie Holtbernd erklärt: „Der Sadist fühlt sich auch in den Anderen ein, um besser quälen zu können.“ Startschuss für eine Erfahrung von Solidarität sei zunächst ein Empfinden für eine „zärtliche Gleichgültigkeit der Welt“. Wenn die Welt draußen gleichgültig wird, ist das Subjekt einerseits existenziell auf sich selbst zurückgeworfen, andererseits muss es sich dem Anderen öffnen, eine Entscheidung über den Umgang mit dem Anderen treffen.
Camus bildet daher die Klammer in Budes Werk. „Solidarität hat einen Moment von existenzieller Begegnung“, erklärt Minten. Erst in der Einsamkeit entstehe die Bereitschaft, solidarisch zu handeln. Holtbernd zitiert an diesem Abend daher gleich zweimal ein Zitat von Heinz Bude: „Man weiß den Gewinn der Solidarität nur zu ermessen, wenn man die Einsamkeit kennt.“ Es klingt, wie aus den besten Tagen von Sartre, Camus und Co.
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