Wieder muss eine Liste her: „Tage, die ich gerne noch mal erleben würde.“ An diese versucht sich Katharina Theodoroulakis zu erinnern. Welcher Tag war besonders schön? Wann war ich glücklich? Kurz hat sie die Augen geschlossen, hält inne. Viel Zeit blieb bisher nicht an diesem hektischen Freitag, an dem sie die alltäglichen Dinge auf einem Zettel abhakt: Wäschewaschen, Kochen, Einkaufen. Und am Nachmittag kommt ein alter Freund zu Besuch. Vielleicht kann sie ihm ihr Geheimnis anvertrauen.
Ein bewegender Auszug aus „Sieh mich an“. Bis dahin hat Mareike Krügels Roman längst einen existentiellen Sog entfaltet. Auch im Medienforum des Bistums Essen, wo die Autorin den Beginn vorlas. So viel ist bis dahin klar: Katharina vermutet, an Brustkrebs erkrankt zu sein. „Das heißt, sie weiß nicht, ob es harmlos ist oder nicht“, erläutert Krügel dem Publikum den Fortgang des Romans und fügt hinzu, dass die Mutter der Protagonistin bereits früh an Brustkrebs starb. „Für sie ist es klar, es geht dem Ende zu.“
Aber bis sie das beim Arzt hat untersuchen lassen, soll alles ganz normal weiterlaufen. Das Verhältnis zu ihrer schwierigen Tochter Helli, ihrem pubertierenden Sohn Alex und ihrem Mann Costas, der ständig wegen seiner Arbeit abwesend ist. Ein Alltag, der plötzlich als Baustelle erscheint. „Man kann ja nicht einfach sterben, wenn die Dinge noch so ungeklärt sind“, denkt sich Katharina. Wie würden sie alle ohne sie klarkommen? Ist überhaupt alles so geworden, wie sie es sich wünschte?
Mareike Krügel bereits vierter Roman ist keiner über eine Krankheit. Das erläutert die Autorin auch an diesem Abend, als sie über die Hintergründe ihres Werks spricht: „Ich hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass mein Leben völlig mit anderen Menschen verstrickt ist.“ Kinder, Familie, Freunde – jede Entscheidung, jeder Schicksalsschlag trifft zugleich die Liebsten, wie auch ihre Protagonistin, die sich als Spinne im Netz sieht, denkt: „Ich habe diese Fäden selber gesponnen, die mich mit all den anderen verbinden, ich wäre heimatlos und verloren ohne dieses Netz, in dem ich sitze. Ebenso wären es die anderen, wenn es mich nicht mehr gäbe.“
Die Krankheit als existenzieller Warnschuss, wie Krügel erklärt: „Da habe ich der armen Katharina was in die Brust gesteckt, um diese Fragen aufzuwerfen.“ Düster wird es trotzdem nicht. Dafür sorgen die makabren Situationen an diesem hektischen Freitagnachmittag: das Nasenbluten, mit dem ihre Tochter provoziert, frühzeitig Schulschluss zu haben; der Daumen, den Katharinas Nachbar beim Rasenmähen verliert. Einfälle, mit denen Krügel es sich leichter machen wollte, sich in eine Figur hineinzuversetzen, die sterben wird. „Ich habe alles reingepackt, was mir beim Schreiben Spaß macht.“ Das sorgt für Leichtigkeit in dieser überzeichneten Darstellung des alltäglichen Wahnsinns, in den plötzlich dieser Schicksalsschlag platzt. „Katharina hat wenig Anlass, innezuhalten“, sagt Krügel. „Es braucht einen Warnschuss.“ Damit die Fragen des Todes zu Fragen von Leben und Glück werden.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Bildung spielt in unserem Land keine große Rolle“
Hilmar Klute über seinen Roman „Die schweigsamen Affen der Dinge“ – Interview 03/23
Geschwisterliebe
Lesung mit Anne Gesthuysen
Glücksmomente eines Durchschnittsmenschen
Lesung: Terézia Mora am 30.1. im Medienforum des Bistums Essen – Literatur 01/20
Solidarität für Nicht-Linke
Buchvorstellung von Heinz Budes „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“ am 5.9. – Literatur 09/19
Bindung nach der Flucht
Lesung „Hotel Dellbrück“ von Michael Göring am 12.2. im Medienforum des Bistums Essen – Literatur 02/19
„Wer im Namen Gottes tötet, ist kein gläubiger Moslem“
Mouhanad Khorchide über einen fortschrittlichen Islam – Spezial 03/17
Vom Leben auf der Straße
Robert Lucas Sanatanas las am 7.9. im Medienforum Essen – Literatur 09/16
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Schaffenskraft und Schaffenskrise
20. Ausgabe des Festivals Literaturdistrikt in Essen – Festival 11/24
Literatur in Höchstform
25. LesArt.Festival in Dortmund – Festival 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
Sprachloser Aufbruch
Philosoph Wolfram Eilenberger auf der Lit.Ruhr – Literatur 10/24
Mit Sörensen zum Eisbaden
Sven Stricker und Bjarne Mädel beim Festival „Mord am Hellweg“ – Literatur 10/24
Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24
Krawall und Remmidemmi
Begehren und Aufbegehren im Comic – ComicKultur 10/24
Förderung von Sprechfreude
„Das kleine Häwas“ von Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz und Marielle Rusche – Vorlesung 10/24
Frauen gegen Frauen
Maria Pourchets Roman „Alle außer dir“ – Textwelten 10/24
Wie geht Geld?
„Alles Money, oder was? – Von Aktien, Bitcoins und Zinsen“ von Christine Bortenlänger und Franz-Josef Leven – Vorlesung 09/24
Lesen unterm Förderturm
Lit.Ruhr in mehreren Städten – Festival 09/24
Ein Quäntchen Zuversicht
Düstere, bedrohliche Welten mit kleinem Hoffnungsschimmer – ComicKultur 09/24
Zerstörung eines Paradieses
„Wie ein wilder Gott“ von Gianfranco Calligarich – Literatur 09/24