Drei Gruppen zählt Terézia Mora in ihrem Freundeskreis auf. Die ersten sind Schriftsteller*innen wie sie: kreativ, produktiv, gut vernetzt. Die zweite Gruppe besteht aus Physiker*innen: rational und mit mehr oder weniger soliden Arbeitsverträgen ausgestattet. Und zur dritten Kategorie zählen IT-Ingenieure: allesamt Männer, Fachkräfte im urbanen Raum. Kurz: geballter Durchschnitt. Denn wie einst die Industriearbeiter und nach ihnen die Angestellten, waren auch diese IT-ler schnell den Turbulenzen des Markts ausgesetzt. „Mit dem Platzen der Internetblase im Jahr 2000 sind sie alle arbeitslos geworden“, erzählt Mora an diesen Abend über ihre dritte Freundesgruppe.
Terézia Mora sah darin ein Vorbild für jene existenziellen Themen, von der sie erzählen wollte, verkörpert in ihrem Protagonisten: Darius Kopp, eine Facharbeitskraft der Informationsbranche, mitte Fünfzig, Stirnglatze, übergewichtig und dauerschwitzend. Diesem Normalo widmete Mora eine ganze Roman-Trilogie. „Der einzige Mann auf dem Kontinent“ und „Das Ungeheuer“ hießen die beiden ersten Teile.
Die Büchnerpreisträgerin erzählte darin von Kopps Entlassungen, den Wirren der Arbeitslosigkeit, den finanziellen Sorgen, davon, wie schließlich seine Frau depressiv wird und Selbstmord begeht. Trauer und Alkohol bestimmten seinen Takt. Umso überraschender klingt dieser erste Satz des dritten Romans, den Mora im Medienforum des Essener Bistums vorliest: „Ich kann nicht anders, als glücklich zu sein.“ Kopp befindet sich in Sizilien, zwischen Olivenhainen und Zitronenbäumen. Über ein Jahr schlug sich der Witwer in Albanien und Griechenland durch, um die Asche seiner Frau in den Ätna zu streuen.
Hier, in Bella Italia, entdeckt er die Freude an der Schönheit der Erde, findet wieder eine innere Ausgeglichenheit. Sogar in eine Liebe mit einer Sizilianerin stürzt er sich. Bleibt dieser Jedermann auch so antriebslos, wie in den bisherigen Romanen: „Er lässt sich gerne treiben“, sagt Terézia Mora über ihren Protagonisten. „Doch eine Begegnung führt ihn zur nächsten. Er wird wie ein Staffelstab weitergereicht.“
Und dann ist da noch die 17-jährige Lore, die diesen urdeutschen Durchschnittstyp herausfordert und ihm ein fürsorgliches Verhältnis fast aufzwingt. „Sie ist da eine gute Motivatorin. Er selbst würde sich gehen lassen“, so die Schöpfern über die Figurenkonstellation.
Dass sie Kopp am Ende wieder nach Berlin schickt, verleiht ihrer Trilogie ein Odysseus-Motiv: Abschied, Reise, Rückkehr. Nicht umsonst ähnelt dieser Computerfachmann Leopold Bloom aus James Joyce „Ulysses“ – ein Akquisiteur für Zeitungsanzeigen, der im Dubliner Großstadttrubel untergeht, ein Niemand und eine der Galionsfiguren der literarischen Moderne. Diese Durchschnittlichkeit verkörpert auch Kopp, als er nach Berlin zurückkehrt. „Ja, er ist ein Niemand, ein anonymer Typ.“ Wie viele es wohl von ihnen gibt? Terézia Mora erzählt von ihren Krisen und Glücksmomenten.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
„Bildung spielt in unserem Land keine große Rolle“
Hilmar Klute über seinen Roman „Die schweigsamen Affen der Dinge“ – Interview 03/23
Geschwisterliebe
Lesung mit Anne Gesthuysen
Solidarität für Nicht-Linke
Buchvorstellung von Heinz Budes „Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee“ am 5.9. – Literatur 09/19
Bindung nach der Flucht
Lesung „Hotel Dellbrück“ von Michael Göring am 12.2. im Medienforum des Bistums Essen – Literatur 02/19
Vom Tod zum Glück
Lesung von „Sieh mich an“ mit Mareike Krügel am 23.1. im Medienforum des Bistums Essen – Literatur 01/18
„Wer im Namen Gottes tötet, ist kein gläubiger Moslem“
Mouhanad Khorchide über einen fortschrittlichen Islam – Spezial 03/17
Vom Leben auf der Straße
Robert Lucas Sanatanas las am 7.9. im Medienforum Essen – Literatur 09/16
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24
Comics über Comics
Originelle neue Graphic Novels – ComicKultur 11/24
Schaffenskraft und Schaffenskrise
20. Ausgabe des Festivals Literaturdistrikt in Essen – Festival 11/24
Literatur in Höchstform
25. LesArt.Festival in Dortmund – Festival 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Nachricht aus der Zukunft
„Deadline für den Journalismus?“ von Frank Überall – Literatur 10/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
Sprachloser Aufbruch
Philosoph Wolfram Eilenberger auf der Lit.Ruhr – Literatur 10/24
Mit Sörensen zum Eisbaden
Sven Stricker und Bjarne Mädel beim Festival „Mord am Hellweg“ – Literatur 10/24
Risse in der Lüneburger Heide
„Von Norden rollt ein Donner“ von Markus Thielemann – Literatur 10/24
Krawall und Remmidemmi
Begehren und Aufbegehren im Comic – ComicKultur 10/24
Förderung von Sprechfreude
„Das kleine Häwas“ von Saskia Niechzial, Patricia Pomnitz und Marielle Rusche – Vorlesung 10/24
Frauen gegen Frauen
Maria Pourchets Roman „Alle außer dir“ – Textwelten 10/24
Wie geht Geld?
„Alles Money, oder was? – Von Aktien, Bitcoins und Zinsen“ von Christine Bortenlänger und Franz-Josef Leven – Vorlesung 09/24
Lesen unterm Förderturm
Lit.Ruhr in mehreren Städten – Festival 09/24
Ein Quäntchen Zuversicht
Düstere, bedrohliche Welten mit kleinem Hoffnungsschimmer – ComicKultur 09/24
Zerstörung eines Paradieses
„Wie ein wilder Gott“ von Gianfranco Calligarich – Literatur 09/24