Das Wasser steht auf Höhe meines Sitzplatzes. Meine Füße liegen noch hoch und trocken. Gerade schwimmt langsam die Leiche des Meteorologen Jörg Dühne (Matthias Heße) im Schlosstheater Moers an mir vorbei. Ein Opfer der vorangegangenen Diskussionsrunde um Erderwärmung und CO2-Ausstoß. Auch der Unternehmer Harald Bachmann (Patrick Dollas), der endlich über Machenschaften der Energieriesen auspacken wollte, ist bereits tot. Dann kommt der Umweltaktivist Carlos (Frank Wickermann) und zieht mir den Stuhl unter den Füßen weg. Das ist beileibe Theater an den Grenzen der Witterung (draußen klirren -3 Grad), das ist Theater ohne Furcht und Tadel eben. Regisseur und Schlosstheater-Chef Ulrich Greb hat aus der Bühne einen alles verschlingenden Pool gemacht. Schwimmen wir zum Anfang.
In einer Talkshow will die Moderatorin Dorothée Vogel (Katja Stockhausen) mit Experten aus Wissenschaft und Wirtschaft drängende Fragen zur Umwelt klären. Anlass ist das erklärte UN-Klimaziel, die Erderwärmung bis 2100 auf zwei Grad plus zu begrenzen. Doch dazu müssten bis 2050 mindestens 80 Prozent der CO2-Emissionen reduziert werden. Tatsächlich steigt die Konzentration der Treibhausgase nach wie vor an; ein Umstand, den die geladenen Umweltaktivisten – die Schauspielerin Ilka Alda (Marieke Kregel) und Carlos – auf ihre jeweils ureigene Art anprangern. Für Ilka ist das Element Wasser Inbegriff des Lebens, für den gewaltbereiten Carlos geht es um einen Kampf gegen die menschliche Zivilisation und ihre technischen Errungenschaften. Und so wird ausgerechnet ein Wasserspender in Grebs Inszenierung zum verbindenden Element für die Diskutanten, die sich erst verbale Schlachten liefern und sich dann an die Wäsche gehen. Und Carlos hat noch ein Fläschchen Wasser in der Tasche, direkt aus dem Block 3 von Fukushima, sauber verseucht mit spaltbarem Material und wie dazu geschaffen, den aufgeblasenen Bachmann den Bach hinunterzuspülen, der behauptet, die ganze Klimakatastrophe sei vor allem ein gigantisches Geschäftsmodell. Auch Dühne, einst Fernseh-Wetterfrosch, widerspricht der Theorie der hausgemachten dramatischen Erderwärmung. Immer wenn es turbulent wird, trifft man sich gemeinsam am Wasserspender und lädt nach. Bis hierhin ist das Stück, das Greb aus Original-Zitaten von Wissenschaftlern, Statements von Umweltschützern und literarischen Texten zusammengeschweißt hat, ziemlich authentisch und lehrreich. Schon lehnen sich die Zuschauer leicht zurück zum informellen Abend, da tropft es erst von der Decke und dann strömt unter der Studiorückwand auf der Bühne Wasser in den Raum.
Das Wasser schlägt zurück. Denn es ist tatsächlich mehr als nur H2O. Die Verbindung aus zwei Molekülen Wasserstoff und einem Molekül Sauerstoff soll Informationen speichern können, und wenn das stimmt, dann müsste dieses Gedächtnis aus dreidimensionalen Netzwerken, den sogenannten „Clustern“, voller menschlicher Abgründe sein. Der Schwall hört nicht auf, alle fünf sitzen im Wasser und diskutieren ungerührt weiter, von der Natur lässt sich keiner bevormunden. Nur wie viel Katastrophe braucht es, damit der Mensch sich doch wieder als Teil der Natur begreift? Ganz einfach: Dieser Punkt ist spätestens dann erreicht, wenn es um das eigene Leben geht. Als Erster ist es Bachmann, der das vergiftete Fläschchen trinkt und dann erbärmlich vor die Hunde geht. Langsam verschwimmen die zivilisatorischen Errungenschaften aus Nächstenliebe und Opferbereitschaft. Das Wasser steht bereits bis zu den Hüften. Die Inszenierung nimmt noch mehr Fahrt auf, jetzt fallen langsam die letzten Schranken. Carlos deklamiert ein Loblied auf die Verwilderung als Allheilmittel für eine Gesellschaft, die längst auch all die Leistungsprinzip-Schranken fallen gelassen hat, die einst als Bollwerk gegen das unverdiente, weil leistungslose Vermögen der Aristokratie installiert wurden; deren erbärmliche Folgen von Gier und Eigennutz heute aber nicht nur den Menschen, sondern den gesamten Planeten bedrohen. Wetterfrosch Dühne kümmert sich derweil lieber um plastifizierte Rettungsmittel, doch Dorothée Vogel hat nur noch nackte Angst vorm Ertrinken und drückt Dühne so lange unter Wasser, bis er tot bei mir vorbeischwimmt. Das Rohe, das Wilde hat gegen die blöden Schwätzer gesiegt, das großartige Ensemble einen hochinteressanten Abend produziert, die 30 Kubikmeter Wasser werden erst spät am Abend wieder abgepumpt. Werden aber wiederverwendet. Kriegen immer Sauerstoff und Chlor, sagt der Regisseur. Ich geh mal lieber meine Socken auswringen.
„Futur II“ | Fr 13.4. 19.30 Uhr | Schlosstheater Moers | 02841 8 83 41 10
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