Die Fidena zeigt in diesem Jahr internationale Beispiele, in denen Figur und Musik gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Damit eröffnen sich gegenseitig neue, oft ungewöhnliche Ebenen. Synästhetische Erfahrungen werden möglich, Sinneseindrücke differenzierter wahrgenommen, oder es stellt sich das Gefühl des Verlustes einzelner Komponenten ein, ähnlich einer Leerstelle, wie es die niederländische Produktion „Tussen“ (Zwischen) provoziert. Hier arbeitet die junge holländische Choreografin Boukje Schweigma mit fünf Tänzern, einem Violinisten, mit Licht und Finsternis. Gute Musik ist manchmal die letzte Zuflucht vor dem Lärm der Welt. Aber alle müssen beizeiten auch auf die Pauke hauen: Die Kultur ist allerorten durch die kommunalen Finanznöte in Bedrängnis, da muss man sich Gehör verschaffen. Auf der Fidena wird darum täglich „Der Letzte Schrei“ zu vernehmen sein. Annette Dabs ist seit 1989 Festivalleiterin und kennt sich im internationalen Figurenund Objekttheater bestens aus.
trailer: Frau Dabs, reicht es in diesem Jahr aus, eine mechanische Musikbox auf die Bühne zu stellen?
Annette Dabs: Das kommt darauf an. Wenn man ein Rockkonzert machen will, reicht es nicht aus. Wenn sich dahinter ein tolles Theaterkonzept verbirgt, könnte das vielleicht schon reichen. Man kann das also nicht pauschal beantworten. Auf das Kulturhauptstadtjahr bezogen bin ich der Meinung: Wenn man was Schlaues, Intelligentes, künstlerisch Hochwertiges anbietet, dann herrscht im Moment geradezu ein Vakuum. Die Fidena kann das gut füllen. Auch „Theater der Welt“ hat das Vakuum sehr gut gefüllt. Das hat mir sehr gefallen.
Ein politisches Projekt aus Afrika ist bereits zum zweiten Mal dabei?
Ja. Das ist eine Folge des letzten Projekts „Le Cadeau – Das Geschenk“. Zum Teil sind es dieselben Mitstreiter. Damals haben wir noch nicht die Möglichkeit gesehen, die ehemaligen Kindersoldaten aus dem Kongo mit in das Theaterstück zu integrieren. Doch das ist ja jetzt fünf Jahre her, inzwischen sind sie Jugendliche und haben sehr viel gelernt. Gleich nach dem Projekt vor fünf Jahren haben sie angefangen, die Instrumente, die wir gestiftet haben, spielen zu lernen. Das können sie jetzt in das Stück einbringen. Heute sind sie sehr an das Kulturzentrum Espace Masolo gebunden, fühlen sich dem verpflichtet und haben auch eine Zukunftsvision in Kinshasa. Wir haben also nicht das Gefühl, dass wir sie nur hierher einladen, um ihnen ein „Paradies“ zu zeigen, und dann wollen sie nicht mehr zurück. Doch sie bleiben ehemalige Straßenkinder, da kann niemand wissen, ob einige nicht einfach abhauen.
Nach 52 Jahren Fidena hat sich was am meisten verändert, das Puppenspiel oder die Finanzen?
(lacht) Im Laufe der Jahre kriege ich immer mehr mit, was andere Festivals in Europa zur Verfügung haben. Ich meine nicht große Festivals wie die Ruhrfestspiele, sondern mit der Fidena vergleichbare Festivals. Die bekommen mindestens das Dreifache von unserem Etat. Ich denke immer, wie machen wir das eigentlich? In der Beziehung hat sich bei uns nicht viel verändert. Wir bleiben ein Festival, das mit geringen Mitteln auskommt. Die Kunst verändert sich dagegen andauernd. Das ist nicht nur beim Puppenspiel so. In 52 Jahren hat sich da unheimlich viel entwickelt.
Rotkäppchen im Dreierpack bei der Fidena. Liegt das an den vielen Missbrauchsfällen?
Das ist eine schöne Idee. Soweit sind wir intellektuell gar nicht vorgedrungen. Der Grund ist, dass ich auf sehr verschiedene Rotkäppchen getroffen bin. Es ist wohl der Stoff, der im Figurentheater am häufigsten inszeniert wird, auch im europäischen Ausland. Ich bin auf verschiedenen Arbeiten gestoßen, die im Zusammenhang von Musik und Figur so gut gepasst haben, und konnte mich einfach nicht entscheiden. Dann habe ich mir gedacht, irgendwie musst du das nur gut verkaufen. Wenn du dich nicht entscheiden kannst, wen du einlädst, dann gibt es zahlreiche Gründe, sie alle einzuladen. Alle drei haben ganz verschiedene Ansätze, richten sich an verschiedene Altersstufen, und wo gibt es ein Festival, bei dem Kinder sich ihre Rotkäppchen-Version aussuchen können? Also habe ich aus meiner Entscheidungsnot eine Tugend gemacht. Das ist der wahre Grund.
Gibt es eigentlich immer gute neue Stücke und Geschichten?
Das mit den Geschichten ist so eine Sache. Wenn ich zum Beispiel in Frankreich Stücke sehe, sind das oft gute Geschichten. Im französischsprachigen Bereich gibt es auch viele Bearbeitungen von zeitgenössischer Dramatik. Doch die kann ich nicht zur Fidena einladen, weil wir dann mit einer großen Übertitelungsanlage arbeiten müssten, und das ist ein Problem. Wir müssten zunächst eine Übersetzung und Übertitelungsdramaturgie erarbeiten und überlegen, ob man die Anlage ins Bühnenbild integrieren kann. Vor allem ist es eine sehr teure Angelegenheit. Derjenige oder diejenige, der eine solche Anlage bedient, muss auch richtig geschult sein. Das ist keine einfache Sache für sich, und wir haben uns bis jetzt immer dagegen entschieden. Englische Stücke zeigen wir ohne Übertitelung, in der englischsprachigen Figurentheaterszene ist aber gerade auch das Wort wenig präsent. Da geht es sehr viel mehr um Visuelles. In diesem Jahr haben wir ja auch mit „Let‘s get loud“ das Motto „Figuren und Musik“. Bestes Beispiel aus Deutschland ist die Uraufführung „Der Tod und das Mädchen“ mit Streichquartett. Text und Musik sind hier gleichrangig, aber in diesem Jahr wird der Text nicht die große Rolle spielen. Es gibt ausreichend Stücke, gute Stücke. Aber die Sprache bleibt ein Problem. Wir sind ein internationales Festival mit vielen internationalen Beobachtern, die dann wiederum Schwierigkeiten haben, unsere deutschen Texte nicht verstehen. Kurz und gut: Es gibt die Stücke, aber nicht bei der diesjährigen Ausgabe.
Ein Blick in die Zukunft. Wann werden autonome Puppen-Roboter die Bühne beherrschen und selbst den Puppenspieler überflüssig machen?
Überhaupt nicht. Nie. Das ist völlig absurd.
Die Puppen werden sich also nie von ihren Fäden befreien?[person]
Nein, die müssen leider weiterzappeln, und das ist auch gut so. Das Theater bleibt nach wie vor eine sehr von Menschen geprägte Geschichte. Das Erlebnis zwischen Bühne und Zuschauerraum ist nach wie vor ungeschlagen, und das hat auch gerade das Festival „Theater der Welt“ wieder bewiesen. Das waren viele tolle Konzepte, die Kuratorin Frie Leysen hier präsentiert hat. Es bleibt die Sehnsucht nach dem, der da vorne auf der Bühne steht. Das ist für mich definitiv so. Die Puppenspieler oder Objekttheaterspieler auf der Bühne sind immer noch die Stars, und das soll auch so bleiben.
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