Das Kleist-Jahr ist zu Ende, die letzten Premieren müssen raus. Am Schauspiel Essen bringt Christoph Roos eine dramatisierte Fassung der Novelle „Michael Kohlhaas“ auf die Bühne, die am Beispiel des titelgebenden Pferdehändlers die Frage des politischen Widerstandes abhandelt. Regisseur Christoph Roos dreht keine komplizierten Interpretationspirouetten, sondern greift zu einfachen, dafür wirkungsvollen Mitteln. In filmisch kurz geschnittenen Szenen wird Kohlhaas' Verkaufsreise nach Dresden angedeutet, sein erzwungener Stopp auf den Gütern von Junker Tronka, wo er seinen Knecht Herse und zwei Pferde zurücklässt. Andreas Maier als Kohlhaas in Jeans und brauner Lederjacke ist ein in seiner gesellschaftlichen Selbstgewissheit scheinbar unerschütterlicher Bürger; ein Mann, der um die Qualität seiner Waren, sprich: seiner Pferde weiß, und über ein (allzu) klares Rechtsempfinden verfügt. Die Begegnung mit Junker Tronka (Andreas Maier) gerät zum Zusammenstoß zweier Welten. Hier der unprätentiöse Pferdehändler, dort ein adeliger Dekadent mit Pelzstola über weißem Hemd, der eher der zynischen Spaßfraktion angehört. Zusammen mit zwei Kumpanen (Floriane Kleinpaß, Holger Kunkel), wird die Adelsfraktion zur Trias aufgewertet, die auch als Richter bzw. Politiker auftritt. In einer brutalen Szene müssen zwei Statisten mit Pferdemaske sich an Expandern verausgaben und werden mit Elektroschocks drangsaliert. Dass der Abend so überzeugend funktioniert, hat auch mit Peter Sciors variablem Raumkonzept zu tun: Eine Veranda mit einer eleganten, geschlossenen Holzwand und einem mit Lamellen versehenen Laubengang öffnet sich an zwei Stellen mit Stegen zum Publikum und schafft so das Modell einer abgestuften Öffentlichkeit zwischen Clandestinem und Ausgeliefertsein.
Kohlhaas erweist sich durchaus als rigider Moralist, wenn er seinen Knecht Herse (Jens Ochlast) inquisitorisch verhört, um nachvollziehbare Gründe für die Misshandlung der Pferde zu finden. Mit fast schockhafter Plötzlichkeit und Brutalität findet Kohlhaas' Frau Lisbeth (Lisa Jopt, die später auch eine Terroristin spielt) den Tod; in immer kürzeren entlarvenden Textschleifen werden die Gerichtsinstanzen durchlaufen, bis nur noch Satzfragmente zu hören sind. Das entlarvt die Willkür der Justiz, zugleich entwickelt der Abend Actionfilmqualität, wenn schließlich die Lamellendeko lautstark zerstört wird.
Ohne Kohlhaas Rigorismus und seinen selbstsüchtigen Eigensinn zu verschweigen, rückt Roos das Geschehen immer stärker ins diskursive Gravitationsfeld des Terrorismus inklusive einer Analyse gesellschaftlicher Eskalationsmechanismen. Es sind die bekannten Debatten der staatlichen „Wir verhandeln nicht mit Terroristen“- Ideologie sowie Massenprotest-Phrasen der Terrorgruppe, inklusive Bekennervideos sowie dem Meinungsstreit innerhalb beider Gruppen. Am Ende steht etwas plakativ das Bild des von dunklen Interessen geleiteten Staates, der Kohlhaas und Tronka erschießen lässt, nur um danach pathetisch-hohle Phrasen („Unser tiefes Mitgefühl ...“) abzusondern. Ein guter Abschluss des Kleistjahres.
„Michael Kohlhaas“ | R: Christoph Roos | Schauspiel Essen | 27.1., 19 Uhr, 30.1., 10.30 Uhr | 0201 812 26 00
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