„Eigentlich“ lautete die bunte Eröffnungsfeier am 4. Juni – der Name ist Programm. Eigentlich sollte Impulse traditionell real in Köln, Düsseldorf und Mülheim an der Ruhr umgesetzt werden. Grund genug gab es auch dazu, schließlich feierte das Festival unter der Leitung von Haiko Pfost seinen nunmehr 30. Geburtstag. Nun hieß der Darstellungs- und Treffpunkt Internet. Vieles, was ursprünglich fiktiv inszeniert war, wurde von einem Virus ins wahre Leben katapultiert. Gerade Impulse, das viele freie Theaterstücke unter seinem Dach vereint, litt sehr unter den Einschränkungen durch Corona, wurden doch zahlreiche Bühnen geschlossen, eine ganze Szene dichtgemacht und damit ein wichtiger Ort der Begegnung und des Austausches für Kulturschaffende. Diese Problematik wurde auch in diversen Online-Chats und Streamings diskutiert, das Wesentliche der Kunstszene dabei herausgestellt.
Das Angenehme an Impulse ist jedoch, dass es auch Krisenzeiten mit Charme und Augenzwinkern durchsteht. So fasste es das Dilemma trotz Dramatik ironisch am Schopf. Etwa mit Impulse-Bravo-Covern, spitzzüngigen Clips und Tanzeinlagen zum Thema „Einsamkeit“ sowie einem Kommentar der Band Fehlfarben, die eigentlich – gemäß ihrem einzigen Hit „Ein Jahr: Es geht voran“ – nun doch endlich Erfolg anstrebte. War der Band damals der kommerzielle Erfolg eher unangenehm, wurde sie irritierenderweise Jahrzehnte später durch Corona stark ausgebremst.
Ein wenig deprimierend hingegen, da nun umso wirklicher, erscheinen auf Corona zugeschnittene Auszüge aus dem Stück „Ungebetene Gäste: eine Spurensuche/Köln“ des österreichischen Kollektivs DARUM in Kooperation mit Werk X-Petersplatz: Die Adaption im Auftrag des Impulse Theater Festivals 2020 ist eine fiktive Recherche eines echten Verstorbenen, der traurigerweise keine Gäste bei seiner Beerdigung hatte: Sie beschäftigt sich mit der grotesken Traurigkeit anonymer Bestattungen. Das Stück, vor Corona inszeniert, ist durch das Virus noch grotesker geworden. So gibt es bei der Beerdigung von „G“ – wie er aus Datenschutzgründen genannt wird – keine Blumen. Seine Urne ist schmucklos. Eine Spurensuche nach anonymen Bestattungen und vergessenen Toten, die bei dieser Version auch durch Köln – über den Südfriedhof und die Südstadt – führt: Durch Corona konnten sich lange Zeit viele Angehörige nicht von ihren Liebsten verabschieden. Nicht mal von jenen, die ihnen ihr eigenes Leben geschenkt haben – den Eltern.
Auf der anderen Seite, ebenfalls bitter: isolierte Kranke und anonym bestattete Tote, deren Lebensenden nicht einmal im Kreise ihrer Familie oder Freunde gebührend gefeiert werden konnten. Ein groteskes Paradox, das durch die Maßnahmen noch verschärft wurde. Um den tatsächlichen Inkognito-Beerdigungen post mortem eine Ehre zu erweisen, die ihnen, als sie verstarben, leider verwehrt wurde, wird hier der Spieß umgedreht: Den Toten wird die Möglichkeit gegeben im Mittelpunkt zu stehen, Verstorbenen eine Stimme verliehen. So heißt die sagenhafte Aufforderung schließlich: Online auf einen echten unbekannten Toten anstoßen. Das Publikum und die Impulse-Teilnehmer prosten sich digital zu. In Gs Namen. Eine rührende Geste, die das Thema zugleich vor allzu Traurig-Kitschigem bewahrt. Wo gibt es so etwas schon? Nur bei Impulse im Online-Chat.
Ebenfalls um das Übersehen – nämlich um jenes von Migranten sowie um Lücken der Erinnerung – dreht sich „Lob des Vergessens Teil II“ (Online-Premiere am 5. Juni) von Oliver Zahn in Ko-Produktion mit den Münchener Kammerspielen, eine Fortsetzung von „Lob des Vergessens I“. Während der Zuschauer sich auf dem Desktop des Regisseurs befindet, chattet der unsichtbare Regisseur, der sich traditionell gerne mit Historischem befasst, in jenem zunächst live und wie wild mit dem Publikum. Statt Bildern folgen verwirrende Chats, paranoid verfasste und wieder gelöschte, suizidal anmutende Textzeilen, die nicht zu wissen scheinen, wo sie eigentlich hinwollen, den Zuschauer uneigentlich verunsichern, bisweilen schwindelig werden lassen, ihn nerven. Zahn wirft einen Blick auf die zum Teil komplizierte Geschichte von Flüchtlingen fern ihrer Heimat. Ein Hintergrund, der die Einheimischen des Landes, in dem sie nun leben, oft nicht wirklich interessiere. Denn: Flüchtlinge seien nicht erwünscht, lauten später die Worte. Er wolle die Technik des sozialen Vergessens deshalb besser verstehen, schreibt er an den Zuschauer.
Ironischerweise ist die nicht empathisch wirkende, eher sozial verkappt daherkommende, sich selber löschende Online-Version mit wirrem Zeichensalat diejenige, die das Vergessen wortwörtlich widerspiegelt. Ist das so oberflächliche, vereinfachende und demente Digitale am Ende doch eine bessere Möglichkeit, um etwa auf Missstände hinzuweisen? Oder können wir, das inzwischen digital demente Publikum, nichts mehr verstehen außer weichgespültem, vereinfachtem, digitalem Buchstabenquark? Oder aber ist das Internet an sich böse, da es vereinfacht und den Menschen des eigenen Denkens beraubt? Wer ist schuld? Viele schieben die Schuld sicherlich wieder auf die ach so bösen Flüchtlinge, die ihre Finger nun auch noch zu allem Übel in die Online-Soße gelegt haben. Die Internet-Mafia schon wieder. Wussten wir es doch. Und genau darum geht es eigentlich auch: um Ressentiments – etwa gegen angeblich noch immer vergewaltigende und sowieso seit jeher stehlende Russen. So folgt zur Abwechslung auch ein russisches Volkslied – das erste echte Bild mit Ton, seit die Russen das Netz erstürmten und für immer besetzen. Das Lied wurde jedoch von deutschen Kriegsflüchtlingen annektiert und überschrieben. Wer wem hier etwas stahl, ist also die ungeklärte Frage. Es ist nicht ganz klar, warum diese es überschrieben – doch auch das ist nicht sicher, denn, auch darauf weist Zahn hin: Das hier ist schließlich nicht die Sache selbst. Nicht ganz klar ist auch, wo diese Lücken der Erinnerung herrühren. Warum sich z.B. nur wenige Menschen mit dem Thema „deutsche Kriegsflüchtlinge“ befassen.
In diesem Sinne: Wer diesen Text eins zu eins übernimmt, hat es sich viel zu leicht gemacht. Impulse jedenfalls gibt es auch im Online-Modus. Und was für welche. Zumindest ist es dem Festival gelungen, auch im Shutdown als Vertreter der freien Theater-Szene sichtbar zu werden und dabei denjenigen eine Stimme einzuhauchen, die oft im Dunklen bleiben.
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