Dieses Wort fällt ihrem Chef wirklich leicht über die Lippen. Solidarität fordert er von Marthe gegenüber ihren KollegInnen im Jobcenter ein. Ohne Ausnahme, ohne Mitleid sollen alle MitarbeiterInnen Sanktionen erheben, wie es rückblickend im Roman heißt, „alles konnte zur Strafe gedeihen, die Kürzung genannt wurde. Sie hat sich gewehrt, Teil einer Strafvollzugsbehörde zu werden.“
Marthe wollte das nicht mehr mittragen, daran erinnert sich sich, jetzt, wo sie am Bankautomaten steht und ihre EC-Karte eingezogen wird. Sie hat einen Termin bei ihrem Bankberater. Ihr Ehemann David, ein Medizintechniker, und sie sind insolvent. Als sie im Jobcenter kündigte, wollte sie selbstständig werden und nahm einen Existenzgründerkredit für einen „Elektronischen Zeitungsausschnittdienst“ auf. Doch der Plan geht nach hinten los und beide stehen am Abgrund ihrer Existenz, als die Bank den Geldhahn zudreht. In einem maroden Dorfhaus, das sie besitzen, wagen sie einen gemeinsamen Neuanfang.
Dieser freie Fall eines Paares ist die Ausgangskonstellation von Kathrin Gerlofs neuem Roman „Nenn mich November“, den sie am Donnerstagabend im Rahmen der LesArt-Reihe im Literaturhaus Dortmund präsentierte. „Das ist ein Thema, wovor Menschen heute Angst haben“, sagt Gerlof über die Spirale der Privatinsolvenz, der ihre ProtagonistInnen gegenüberstehen. „Man bemüht sich, aber trotzdem kann es immer passieren, dass man aus der Mitte herausfällt.“
Ist der finanzielle Ruin ein Anreiz, es jetzt erst Recht allen zu zeigen? Oder zerfrisst dieser Kollaps noch die letzten materiellen Grundlagen einer Beziehung?
An diese Fragen tastet sich Gerlau langsam heran in dieser Paargeschichte und springt dafür zwischen verschiedenen Erzählebenen hin und her. Mal schildert sie aus einer auktorialen Perspektive, mal als innere Rede. David nannte Marthe einst November, weil sie ihren Namen nie mochte und dieser Monat am ehesten zu ihr passte. Ihre Liebe wird hier im verlassenen Dorf auf die Probe gestellt: „Wir haben uns nie erzählt, was wir vom Leben erwarten. Immer nur gemacht, nicht gesprochen. Ich will nicht, dass mein Mann. David soll kein Scheiße fahrender Bauer werden. Kein Güllebaron und kein Maisexperte. Sie haben aus Liebe geheiratet.“
Das Dorf, in dem beide stranden, wird von wenigen Seelen bewohnt und von zwei Großgrundbesitzern dominiert. Maisfelder umringen den Ort. Dahinter reihen sich weitere Dörfer mit weiteren Maisfeldern ein. „Das ist ein Ort des Schreckens“, sagt Gerlof selbst über diesen Schauplatz ihres Romans. In diesen führt sie gleich im ersten Kapitel ihres Romans ein: ein Dorf, das sich im tiefen Schlummer befindet. Begehren verkörpern nur noch die Hunde, die durch die Nach streifen.
Die bittere Verdrängung an die Peripherie ist eines von vielen tagespolitischen Themen, die in Gerlofs Roman auftauchen. Neben der Armut und der Privatinsolvenz oder dem Agenda2010-Sanktionssystem ragt in einem späteren Kapitel auch die „Flüchtlingskrise“ in den Vordergrund. Als Geflüchtete in einstigen Baracken im Dorf unterkommen sollen, lehnen das viele in der Gemeinde ab. Einige LeserInnen und Kritiker erinnerten sich bei der Lektüre an Szenen aus ostdeutschen Orten wie Bautzen. Was Gerlof allerdings nicht vorschwebte: „Es wird oft gesagt, das ist ein Roman, der im Osten spielt, das lehne ich ab.“
Zu sehr seien für sie die gesellschaftlichen Verwerfungen, die sich entlang asylpolitischer Fragen abzeichneten, ein gesamtdeutsches Problem. Auch darum dreht sich der Roman, wie die einstige Chefredakteurin der „Jungen Welt“ im Literaturhaus erläutert: „Eine soziale Gemeinschaft funktioniert auch nach der Hinsicht, wie sie mit Angst umgeht, bevor diese in Hass umkippt.“ Diese Frage müssen sich auch ihre beiden Verliebten im Roman stellen, nach dem sie die Mitte verloren haben.
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