Sein heißt wahrgenommen werden, lautet ein berühmter Satz des englischen Philosophen George Berkeley. Das lässt sich derzeit gleichermaßen auf den Hang zum Selfie wie zur Überwachung anwenden. Wer nicht überwacht wird, existiert nicht – und wird deshalb vielleicht auch nicht geliebt. Mühsam hat Frau F (Janina Sachau) ihre Computerhardware mit Klebeband zu einer Trümmerlandschaft auf einem Tisch zusammengeklebt. Und dann leuchtet es endlich wandgroß auf: Das Überwachungsbild dieses süßen und tollpatschigen Herrn M (Tom Gerber), in den Frau F sich im wörtlichen Sinne verguckt hat.
Seit zwei Jahren veranstaltet das Schauspiel Essen den Stückewettbewerb „Stück auf!“, der letztlich der Selbstversorgung dient: Der mit 5000 Euro prämierte Siegertext kommt in der folgenden Saison zur Uraufführung. Sieger 2013 war Katja Wachter mit ihrem Erstling „Eine Blume als Gegenwehr“. Ein Stück mit sechs Personen, deren Eigennamen zu Buchstabenkürzeln geschrumpft sind und die geradezu hilflos nach Nähe suchen. Regisseur Tilman Gersch entwickelt zu Beginn eine stumme Choreographie der Vergeblichkeit zwischen den sechs Tischen (Ausstattung: Andreas Auerbach) in der Essener Spielstätte Casa. Ein Ballett einsamer Kümmerlinge zwischen Annäherung und Flucht. Frau F ist Marktforscherin, die ihre Untersuchungen bis in die intimsten Lebensäußerungen ihrer Mitmenschen ausgedehnt hat und der kein statistisches Detail entgeht. Ihre arrogante, biedere Schwester B 2 (Ines Krug) hat diesbezüglich als Psychotherapeutin ihren ständigen Zwang zur Diagnose zum Erkenntnisraster verfeinert: Alles Fälle, wohin man sieht, inklusive ihres Kollegen B 1 (Jens Winterstein), der ihr auf schamlose Weise nachstellt und im Cordanzug als Klischee des amerikanischen Seelendoktors daherkommt. Ausgerechnet er gibt sich als Faktenfetischist, der psychischen Phänomenen mit schierer Tatsachenerhebung beizukommen versucht. Statistik und Einzelfall, Algorithmus und Zufall, Systematik und Störung, das ist das Labyrinth, in dem sich Katja Wachters Figuren verfangen. Ob Psychoanalyse oder Digitalisierung, die Kontrollsysteme menschlichen Verhaltens produzieren keine „Normalität“, sondern Verschrobenheit. Unter Wachters vermeintlich beiläufigen Dialogen, die zwischen platter Welterkenntnis und Alltagsgeplauder changieren, tut sich eine bodenlose Abgründigkeit auf.
Wer einsam ist, könnte das Problem einfach auch mit einer Stimme im Kopf lösen. Der durchgeknallte E (Jörg Malchow) mit Sci-Fi-Papphelm hat nicht nur den flüsternden Mann im Ohr, er sucht ihn auch noch in der Realität (was Therapeut B1 in den Wahnsinn treibt ) – und entdeckt ihn schließlich in Jonas Gerbers täppischem M. Der wiederum begegnet mehrfach zufällig Herrn T (Jens Ochlast), der sich partout nicht an vorherige Treffen erinnern kann. Tilman Gerschs Inszenierung setzt vor allem auf Pointen und Absurdität, scheut weder Slapstick, noch Boulevard. Man kann sich Wachters „Blume“ sicherlich abgründiger vorstellen, aber die Qualität dieses Stücks dürfte letztlich darin liegen, dass es eine Vielzahl an Deutungen zulässt.
„Eine Blume als Gegenwehr“ | R: Tilman Gersch | 6., 8., 29.6. 19 Uhr | Theater Essen | 0201 81 22 200
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Abschied und Artusepik
„Merlin oder Das wüste Land“ in Essen – Prolog 04/23
„Bedürfnis nach Wiedergutmachung“
Aisha Abo Mostafa über „Aus dem Nichts“ am Theater Essen – Premiere 02/23
Rache für den Gedankenstrich
„Marquise von O…“ in der Essener Casa – Auftritt 11/20
„Den Begriff Familie mal überdenken“
Intendant Christian Tombeil über das Essener Spielzeitmotto „We are family“ – Premiere 09/20
Love is in the air
Der Theater-März im Ruhrgebiet – Prolog 02/19
Böse Welt da draußen
„Auerhaus“ im Essener Casa – Theater Ruhr 01/19
Das rituelle Begräbnis von Visionen
„Proletenpassion“ zum Ende des Bergbaus in Essen – Auftritt 06/18
„Der ewige Konflikt zwischen Mensch und Maschine“
Nils Voges zur Inszenierung von „Metropolis“ im Theater Essen – Premiere 02/18
Inspiration Ruhrpott
TUP-Festtage 2018: Kunst5 „Heim Art“ – das Besondere 02/18
Scheitern des Verschwindens
Festival „638 Kilo Tanz“ in Essen – das Besondere 11/16
Zwischen Wunschpunsch und Biofleisch
Die Letzten sind nie die Ersten. Vorweihnachtsstücke im Ruhrgebiet – Prolog 10/16
Jack Sparrow singt Oper
Guy Joosten inszeniert „Die schweigsame Frau“ in Essen – Oper in NRW 04/15
Licht in der Finsternis
„Brems:::Kraft“ in Köln und Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 01/25
Brautkleid aus reinster Haut
„Subcutis“ in Mülheim a. d. Ruhr und Köln – Theater Ruhr 01/24
Trance durch Kunst
Die Reihe Rausch 2 in Mülheim a.d. Ruhr – Theater Ruhr 11/23
Brecht im Discounter
„Der gute Mensch von Sezuan“ am Grillo-Theater in Essen – Theater Ruhr 10/23
Bretter der Kulturindustrie
„Das Kapital: Das Musical“ im Schauspiel Dortmund – Theater Ruhr 10/23
Siehst du, das ist das Leben
„Der erste fiese Typ“ in Bochum – Theater Ruhr 06/23
Der gefährliche Riss in der Psyche
„Die tonight, live forever oder das Prinzip Nosferatu“ am Theater Dortmund – Theater Ruhr 04/22
Unberührbare Souveränität
Frank Wedekinds „Lulu“ am Düsseldorfer Schauspielhaus – Theater Ruhr 03/20
Totenmesse fürs Malochertum
„After Work“ in den Bochumer Kammerspielen – Theater Ruhr 02/20
Gespenstisches Raunen
Die Performance „Geister“ am Schauspielhaus Bochum – Theater Ruhr 02/20
Drei wilde C´s im Schnee
„After Midnight“ im Essener Grillo – Theater Ruhr 02/20
Von Büchern überschüttet
„Sokrates der Überlebende / Wie die Blätter“ in Mülheim – Theater Ruhr 02/20
Tragödie mit Diskokugel
Horváths „Glaube Liebe Hoffnung“ in Oberhausen – Theater Ruhr 01/20